Aleph
denn im Hier und Jetzt ist alles enthalten, was du erfahren hast und erfahren wirst. Die Welt wird in diesem Augenblick zugleich geschaffen und zerstört. Wen auch immer du getroffen hast, wird wieder auftauchen, wen auch immer du verloren hast, wird zurückkommen. Erweise dich der Gnade würdig, die dir zuteilwurde. Erkenne, was in dir vorgeht, und du wirst wissen, was in allen anderen vorgeht. Nur glaube nicht, dass ich gekommen bin, um dir Frieden zu bringen. Ich bin gekommen, um dir ein Schwert zu reichen.«
Es regnet, ich zittere vor Kälte, und mein erster Gedanke ist: »Ich werde mich erkälten.« Aber dann tröste ich mich mit dem Gedanken, dass mir bisher jeder Arzt versichert hat, Erkältungen würden von einem Virus hervorgerufen, nicht von Wassertropfen.
Es gelingt mir nicht, im Hier und Jetzt zu sein; in meinem Kopf dreht sich alles: Wohin soll ich gehen? Und was ist, wenn ich die Menschen aus meiner Vergangenheit auf meinem Weg nicht erkenne? Es wäre nicht das erste und sicher auch nicht das letzte Mal. Das ist schon ein paar Mal passiert und wird wieder passieren - sonst hätte meine Seele schon ihren Frieden.
Nach neunundfünfzig Jahren kenne ich mich mittlerweile ganz gut. Als ich J. das erste Mal traf, schien seinen Worten ein Leuchten anzuhaften, viel strahlender, als es seine Person war. Ich akzeptierte alles, was er tat und sagte, ohne es zu hinterfragen, ging Schritt um Schritt ohne Angst und bereute es niemals. Doch die Zeit verging, und mit zunehmender Vertrautheit kam die Routine. Obwohl J. mich nie enttäuscht hat, konnte ich ihn einfach nicht mehr mit den gleichen Augen sehen wie zu Anfang. Obwohl ich seinen Worten noch immer Glauben schenke, tue ich es jetzt nicht mehr (wie noch 1992, zehn Jahre nach unserer Begegnung) mit Freuden, sondern aus Pflichtgefühl und längst nicht mehr mit der gleichen Überzeugung.
Doch das ist meine Schuld. Schließlich war es meine Entscheidung, mich dieser magischen Tradition zu verschreiben. »Welchen Sinn hat es also, sie jetzt in Frage zu stellen? Es steht mir jederzeit frei, all das aufzugeben, aber irgendetwas treibt mich voran. J. hat zweifellos recht, aber ich habe mich nun mal an das Leben, das ich führe, gewöhnt und brauche keine weiteren Herausforderungen. Nur Frieden.
Eigentlich sollte ich glücklich sein: Ich bin erfolgreich in einem sehr unsicheren Beruf, in dem ein hoher Konkurrenzdruck herrscht; bin seit siebenundzwanzig Jahren mit der Frau, die ich liebe, verheiratet; erfreue mich bester Gesundheit; bin von Menschen umgeben, denen ich vertrauen kann, und werde von meinen Lesern freudig begrüßt, wenn ich ihnen auf der Straße begegne. Es gab Zeiten, in denen mir das genügte, aber in den letzten zwei Jahren genügte es mir immer weniger.
Ob das nur eine vorübergehende Krise ist? Reicht es nicht, die gewohnten Gebete zu sprechen, die Natur als Gottes Werk zu achten und all die Schönheit um mich herum in mir aufzunehmen? Warum also soll ich mich weiter bemühen, wenn ich doch überzeugt bin, an meine Grenzen gelangt zu sein?
Warum kann ich nicht sein wie meine Freunde?
Es regnet immer stärker, und ich höre nur noch das Rauschen des Wassers. Ich bin vollkommen durchnässt, aber unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. Ich will nicht von hier weg, weil ich nicht weiß, wohin. J. hat recht. Ich bin verloren. Wenn ich tatsächlich an meine Grenzen gelangt wäre, gäbe es dieses Gefühl von Schuld und Frustration nicht mehr. Aber ich fühle weiterhin beides. Furcht und Zittern. Doch unzufrieden lässt Gott uns nur aus einem einzigen Grunde sein: Alles muss sich ändern, man muss sich wieder auf den Weg machen.
Ähnliches habe ich früher schon erlebt. Immer wenn ich mich weigerte, meinem Schicksal zu folgen, passierte in meinem Leben etwas Schlimmes. Und genau davor fürchte ich mich in diesem Augenblick: vor einem Unglück. Ein Unglück löst in unserem Leben radikale Veränderungen aus, Veränderungen, die alle eines gemeinsam haben: Verlust. Wenn wir einen Verlust erleiden, bringt es nichts, uns das Verlorene zurückzuwünschen, es ist besser, den großen, frei gewordenen Raum zu nutzen und ihn mit etwas Neuem zu füllen. In der Theorie hat jeder Verlust auch etwas Gutes; aber in der Praxis lässt er uns an Gottes Existenz zweifeln und uns fragen: Wie habe ich das verdient?
Herr, bewahre mich vor dem Unglück, und ich werde Deinen Ratschlüssen folgen.
Kaum habe ich das gedacht, kracht ein Donnerschlag, und der Himmel wird
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