Alera 02 - Zeit der Rache
gegessen hatte. Sie warf einen Blick auf meinen Gemahl, denn sie schien zu wissen, dass der Teller für ihn gedacht gewesen war, und wirkte etwas irritiert. Als sie seine leichte Benommenheit bemerkte, nickte sie mir fast unmerklich zu, weil sie richtig gefolgert hatte, was meine Absicht gewesen war.
Londons Schreie waren verstummt, doch während ich Nantilam beobachtete, konnte ich sie immer noch in meinem Kopf widerhallen hören. Ihr ging es anscheinend nicht anders, denn ihre düstere Miene war wie ein Spiegelbild meiner eigenen.
»Ich heiße das Tun meines Bruders nicht gut, Königin von Hytanica«, sagte sie, als sie mit dem Essen fertig war und den Löffel auf den Teller zurückfallen ließ, den sie auf ihren Knien balancierte. Ich nahm ihr das Geschirr ab und fragte mich, ob sie wohl noch mehr sagen würde.
»Mich gefangen zu nehmen, das hat Euch zwar einen Vorteil verschafft, ihn aber auch meiner Kontrolle entzogen. Jetzt gibt es niemand, der ihn noch in die Schranken weisen könnte.«
Ihre Worte verschlugen mir fast den Atem. Und die Kälte, die ich ihr gegenüber bisher empfunden hatte, verschwand.
»Glaubt Ihr etwa, dass er Euch nicht zurückhaben will?« Langsam spürte ich Panik in mir aufsteigen, denn wenn das zutraf, hätten wir unser Pfand verloren.
»Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber ein Teil von ihm bestimmt nicht. Der dominierende Teil allerdings weiß, dass er mich braucht und allein nicht der rechtmäßige Herrscher über Cokyri ist. Außerdem empfindet er auch Zuneigung für mich, selbst wenn man ihm das kaum zutrauen würde.«
Diese Vorstellung bereitete mir in der Tat Schwierigkeiten, aber mir blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken.
»Es gibt da eine Geschichte, die ich Euch erzählen sollte, Euch allein«, fuhr Nantilam fort. »Ihr solltet sie kennen. Setzt Euch, wenn Ihr sie hören wollt.«
Verstohlen sah ich zu den anderen hin – Steldor schlief, mein Vater stand ein Stückchen entfernt und runzelte die Stirn, weil ihm meine Nähe zur Hohepriesterin offensichtlich missfiel, meine Mutter und Schwester saßen dicht aneinandergedrängt am Feuer, Temerson war bei ihnen und starrte in die Flammen.
»Sprecht«, bat ich und setzte mich mit Herzklopfen ihr gegenüber, obgleich ich keine Ahnung hatte, was mich erwarten würde.
Nantilam nickte und vergeudete keine Zeit mit einer langen Vorrede, denn unsere Gelegenheit zu reden wäre vorbei, sobald Halias und Cannan zurückkämen.
»Meine Mutter war die Herrscherin über Cokyri, eine stolze und strenge Kaiserin«, sagte sie mit der Stimme einer Märchenerzählerin. »Sie allein besaß die göttliche Gabe zu befehlen und zu strafen, zu gewähren und zu lohnen. Diese magische Fähigkeit war über Generationen von der Mutter auf die Tochter vererbt worden und hatte bei den Cokyriern zu der selbstverständlichen Überzeugung geführt, nur Frauen seien in der Lage zu regieren.
Als es für meine Mutter an der Zeit war, eine Thronerbin zur Welt zu bringen, geschah etwas Unerwartetes. Sie schenkte nicht nur einem Kind das Leben, sondern zweien – einem Jungen und einem Mädchen. Die Zauberkraft, die nur für mich bestimmt gewesen war, wurde geteilt und ging zur Hälfte auf mich, zur Hälfte auf meinen Bruder über. Als wir heranwuchsen und lernten, unsere Macht zu gebrauchen, wurde offensichtlich, wie die Magie aufgeteilt war, nämlich so, dass seine Fähigkeiten keine Ähnlichkeit mit den meinen hatten, und umgekehrt. Wir waren wie Zerstörung und Schöpfung, Leben und Tod. Er war der Kriegsherr, ich die barmherzige Kaiserin. Allerdings vermochte ich nicht wirklich Kaiserin zu sein, denn ich allein besaß ja nicht die volle Macht, die man für nötig erachtete, um Cokyri regieren zu können. Daher entschied meine Mutter, dass ich gemeinsam mit meinem Bruder herrschen sollte. So wurde bestimmt, dass ich die Hohepriesterin Nantilam würde, allseits bewundert und respektiert für meine Politik und den Umgang mit dem Volk, während mein Bruder als Overlord Trimion unser Land schützen, Krieg führen und uns mit seiner ultimativen Waffe – der Gabe zu töten – den Sieg bringen würde.
Zehn Jahre nach unserer Geburt, als meine Mutter noch Kaiserin war, kam ein Mann nach Cokyri, stellte sich als Prinz Rélorin von Hytanica und Botschafter seines Vaters, des Königs, vor, um uns ein Handelsabkommen zwischen Hytanica und Cokyri vorzuschlagen. Er war eigentlich noch ein Kind und ein Narr, und nachdem man ihn vor meine Mutter gebracht
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