Alera 02 - Zeit der Rache
kannte.
Ich starrte Cannan an und Tränen traten mir in die Augen, während ich auf seine Antwort wartete, die mir bestätigen würde, was ich bereits wusste. Er antwortete mir so freimütig wie immer.
»Wir haben Galen am frühen Morgen als Kundschafter ausgeschickt. Es ist London. Der Overlord hat ihn weiter in die Berge hinaufschaffen lassen, damit wir die Schreie hören, wo auch immer wir sein mögen. Geht wieder hinein, Alera. Es wäre besser, wenn Ihr versuchen würdet, sie zu überhören.«
»Sie zu überhören?«, schrie ich und scherte mich nicht um meine eigene Lautstärke. Ich riss mich von ihm los und fühlte mich, als müsste ich den Verstand verlieren. »Wie könnt Ihr so etwas sagen? Wie könnt … wie könnt Ihr …«
Ich rang nach Atem, und Schluchzer erstickten meine Worte. Cannan griff erneut nach meinem Arm und versuchte, mich hineinzuziehen, aber ich stemmte mich mit den Füßen dagegen.
»Das hat er nicht verdient. Nicht nach allem, was er für uns getan hat. Er hat es nicht verdient. Das ist nicht fair.«
Ein weiterer Schrei erscholl, schien uns zu umkreisen, aber danach fügte ich mich Cannan und ließ mich von ihm zur Feuerstelle führen, an der die anderen sich bereits versammelt hatten. »Nichts ist fair und nichts ist gerecht, und es fällt nicht leicht, das zu verstehen oder hinzunehmen. Aber wir haben noch nicht verloren. Dafür hat London gesorgt.«
28. MEIN NAME IST LONDON
Tagelang ging es so weiter. Es begann am Morgen, wenn wir erwachten, und dauerte, bis London den Schmerz nicht mehr ertrug und das Bewusstsein verlor, meist erst nach einigen Stunden. Es war unerträglich, weil unüberhörbar, und machte allen, selbst der Hohepriesterin, zu schaffen. Da ein Befreiungsversuch aussichtslos gewesen wäre und mit hoher Wahrscheinlichkeit unsere Leute in der Stadt gefährdet hätte, machte schließlich Temerson seinen düsteren Gedanken Luft.
Er knallte nach dem Frühstück seinen Grützenapf heftig auf den Boden und presste sich beide Hände an die Schläfen. Dabei vergrub der die Finger in seinem viel zu langen zimtbraunen Haar und schaukelte vor und zurück. Galen hielt draußen Wache, und bald musste Temerson ihn ablösen.
»Können wir es nicht beenden – ihm einfach das Leben nehmen? Das geht jetzt wirklich schon lange genug, ich halte es einfach nicht mehr aus.«
»Wer von uns wäre denn dazu imstande?«, fragte Halias, der neben Nantilam stand. »Nenn es Gnadentod, und das wäre es bestimmt auch – ich könnte trotzdem nicht mit einem Pfeil auf Londons Herz zielen.«
Cannan unterbrach die beiden, bevor sie noch expliziter werden konnten.
»Wir müssen die Aufmerksamkeit des Overlord auf etwas anderes lenken. Es ist an der Zeit zu handeln, unsere ursprünglichen Forderungen zu wiederholen. Wir müssen ihm zeigen, dass wir es ernst meinen.«
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte mein Vater, dem wie Temerson der Appetit vergangen war und der nun vor der Feuerstelle auf und ab ging und die Hände rang.
»Er traut uns nicht zu, dass wir es in die Tat umsetzen.«
Die Stimme war leise, rau, aber unverwechselbar. Steldor war aufgewacht und hatte sich auf seine Ellbogen gestützt, um sich am Gespräch zu beteiligen. Unter seinen Augen lagen noch dunkel Ringe, aber er wirkte zunehmend ruhelos, diesmal allerdings nicht vom hohen Fieber, sondern im Zuge seiner Genesung.
»Überanstreng dich nicht«, riet Cannan ihm und trat näher, doch Steldor schüttelte abwehrend den Kopf.
»Er glaubt nicht, dass wir sie töten werden. Er hat seinen Spaß daran, London zu foltern, ohne auch nur zu erwägen, welche Folgen das für seine Schwester haben könnte. Er hält uns für weichherzig.« Steldors Kiefer mahlten, als er wütend und entschlossen den Blick seines Vaters suchte. »Schickt ihm ihre Hand und lasst uns abwarten, wie weichherzig er uns dann noch findet.«
Ich bemerkte, wie die Hohepriesterin die Augen aufriss und mein Vater scharf Luft holte, während sich mein Magen zusammenzog. Der Hauptmann verengte seinen Blick, allerdings eher um nachzudenken als aus Missbilligung. Halias rieb sich den Nacken. Konnten sie das wirklich erwägen? Ich würde ihnen jedenfalls niemals gestatten, ihr die Hand abzuhacken.
Steldor verzog vor Schmerz das Gesicht und sein Vater ermahnte ihn sogleich: »Leg dich wieder hin. Du bist noch nicht wieder im Vollbesitz deiner Kräfte.«
»Nicht seiner Kräfte, aber seines Verstandes«, bemerkte Halias, während Steldor sich mit leiser Verzweiflung über
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