Alera 02 - Zeit der Rache
erlaubte mir erstmals einen Blick in ihr von Verletzungen schwer gezeichnetes Gesicht.
»Mutter …«, rief ich aus und fühlte mich ganz elend bei der Vorstellung, was sie erduldet haben musste. Mein Vater wirkte dagegen unverletzt; ihr war solches Glück anscheinend nicht beschieden gewesen. Ich konnte nur vermuten, dass ihre perfekten, makellosen Züge dem Overlord zu verlockend erschienen waren.
»Miranna ist hier?«, fragte sie mit zitternden geschwollenen Lippen und kam damit jeglicher Bemerkung zuvor, die ich über ihren Zustand hätte machen können.
»Ja, sie ist in Sicherheit. London …« Ich verstummte und konnte nicht weitersprechen. Einen Moment lang schloss ich die Augen, um mich wieder zu fassen, dann hob ich erneut an. »London hat sie auf seiner Flucht aus Cokyri mitgebracht.«
»Dann gibt es doch wenigstens einen Grund, Gott zu danken«, flüsterte sie.
Die Wiedervereinigung meiner Eltern mit ihrem jüngsten Kind war lange überfällig, und nachdem mein Vater sie umarmt hatte, verbrachte Miranna den Großteil des Tages und Abends in den Armen meiner Mutter. Nach einiger Zeit winkte sie auch mich zu sich, und ich rollte mich neben ihr am Feuer zusammen. Das fühlte sich einigermaßen friedvoll an, auch wenn meine Gedanken immer wieder zu London abschweiften. Ich versuchte, mir nicht auszumalen, was er durchmachen musste, sofern er überhaupt noch am Leben war, denn vielleicht wäre es besser für ihn, es schon hinter sich zu haben.
Cannan sprach mit meinem Vater und erklärte ihm, wie wir die Hohepriesterin in unsere Gewalt gebracht hatten und dass wir geplant hatten, sie zu benutzen, um den freien Abzug unseres Volkes zu erzwingen. Während die beiden sich unterhielten, musterte ich meinen Vater genauer: Sein Haar war grauer und sein Gesicht faltiger geworden. Außerdem schien er an Gewicht verloren zu haben, sodass er neben dem großen, breitschultrigen und kräftig gebauten Gardehauptmann beinahe unscheinbar wirkte.
Mein Vater und Cannan standen an der linken Wand der Höhle, und die Frau, von der sie sprachen, hatte sich erhoben. Sie funkelte den König, dem sie bereits zweimal begegnet war, nur böse an. Mein Vater war ebenso unfreundlich und grüßte sie nicht. Außerdem galt seine Aufmerksamkeit Steldor, der zwar noch sichtlich geschwächt wirkte, jedoch friedlich schlief. Galen war ebenfalls eingeschlummert und lehnte in der Nähe seines Freundes zusammengesunken an der Wand. Cannan weckte ihn nicht.
»Was fehlt Steldor denn?«, fragte mein Vater und vermutete wohl eine Krankheit, da ein Hemd die letzten Verbände um den Leib des Königs verbarg.
»Er wurde verwundet«, sagte Cannan sachlich und ließ den Kampf um sein Leben, der hinter uns lag, gänzlich unerwähnt. »Inzwischen ist er schon auf dem Weg der Besserung.«
Er warf einen Blick auf Nantilam, die mit gefesselten Händen immer noch unbeweglich im Hintergrund stand, Halias als Wache neben sich.
»Das haben wir der Hohepriesterin zu verdanken.«
»Auch wenn sie ihn nicht freiwillig geheilt hat«, murmelte Halias. Zum Dank für die Anerkennung ihres Verdienstes nickte sie dem Hauptmann leicht zu.
In der Nacht stellte sich der Schlaf leichter ein als erwartet. Wahrscheinlich weil mein Körper schon so verzweifelt nach ein wenig Ruhe verlangte. Doch mit dem Schlaf kamen auch die Träume: erfüllt von Foltergeschrei und Schmerzensvisionen, die sich in einem Paar vertrauter indigofarbener Augen spiegelten, die immer wieder zu kalten smaragdgrünen Pupillen verschwammen. Als ich hochfuhr, war es bereits Morgen, und ein paar einfallende Sonnenstrahlen verscheuchten ein wenig von der Düsterkeit der kalten Höhle – doch die Schreie waren weiterhin zu hören.
Nur Temerson, meine Mutter und meine Schwester schliefen noch, und erst als ich taumelnd auf die Füße kam, begriff ich, dass die Schreie echt waren. Sie klangen wie ein Echo, so schwach, dass ich geglaubt hatte, sie existierten nur in meinem Kopf, doch als ich der verbissenen Mienen und mitleidigen Blicke der anderen gewahr wurde, stürzte ich zum Ausgang.
Ich war so schnell, dass niemand mich aufhalten konnte, doch Cannan folgte mir, nahm mich am Arm und wollte mich wieder hineinführen. Aber dafür war es schon zu spät. Sobald ich aus den engen Mauern der Höhle getreten war, drangen die Schreie viel lauter an mein Ohr. Und das Leid, das aus ihnen sprach, vergrößerte diese Wirkung noch.
»Was ist das?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort doch bereits
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