Alera 02 - Zeit der Rache
Und ihm steht noch ein sehr langes Leben bevor, sofern es meinem Bruder nicht gelingt, ihn zu töten.«
»Wie viel Zeit bleibt ihm?«, fragte ich und hatte das Gefühl, die zahlreichen Mosaiksteinchen, die ich im Laufe der Jahre gesammelt hatte, würden sich endlich zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Londons Geheimnis war gelüftet … rechtzeitig zum Zeitpunkt seines Todes.
»Zwei Tage, vielleicht drei. Dann wird meine Macht im Kampf gegen die meines Bruders erschöpft sein.«
»Und …« Ich verstummte, weil meine nächste Frage eigentlich unerheblich war, aber ich wollte sie trotzdem stellen. »Und wenn wir Euch gehen ließen, würde er dann verschont?«
»Mein Bruder wird Rache an London nehmen«, sagte sie leise zu mir. »Egal, was passiert. Das Schicksal Eures Freundes ist nicht mehr verhandelbar.«
Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Mein Kopf schmerzte schon von der Fülle der Informationen, die sie mir geliefert hatte, aber ich wusste, dass die Geschichte aus irgendeinem Grund von Bedeutung war. Bloß aus welchem?
»Königin von Hytanica«, sagte sie, und ich schaute in ihr ebenmäßiges Gesicht, in diese durchdringenden und klugen grünen Augen. »Ihr seid anders als die meisten anderen Frauen Eures Volkes, und selbst jetzt unterschätzen Euch alle. Alle, bis auf mich.«
Diese Behauptung ärgerte und irritierte mich, doch mir blieb keine Zeit, darauf einzugehen, denn Cannan und Halias waren in die Höhle zurückgekehrt. Der normale Tonfall ihrer Unterhaltung riss mich aus meinen wirren Gedanken und lenkte meine Aufmerksamkeit von der Frau ab, der ich noch gegenübersaß.
»Temerson, Ihr löst Galen ab«, befahl Cannan und scheuchte den jungen Mann nach draußen.
»Was habt Ihr beschlossen?«, fragte mein Vater, der immer noch unschlüssig herumstand.
Der Hauptmann antwortete nicht mit Worten, doch sein vielsagender Blick in meine Richtung genügte, um meine Ängste zu bestätigen. Ich erhob mich und meine Haut fühlte sich mit einem Schlag eiskalt an.
»Noch nicht«, sagte Cannan, die Augen immer noch auf mich geheftet, und ich verstand, dass er meinte, es würden zumindest für den Moment keine Gliedmaßen abgetrennt.
Aber wie sehr mich die Vorstellung, der Hohepriesterin eine Hand abzuschlagen, auch anwiderte, so würde ich doch gegen Cannan und Halias nichts ausrichten können. Vielleicht war ich, wie die Hohepriesterin gemeint hatte, ja anders als die meisten Frauen meines Königreiches, doch selbst das verschaffte meiner Stimme kein Gehör.
29. DIE STERBENDEN UND DIE TOTEN
Nantilam hatte mir etwas mitteilen wollen, das nicht offensichtlich war. Aber worum mochte es sich bloß handeln? Stundenlang zermarterte ich mir darüber das Hirn. Im Geiste wiederholte ich alles, was sie mir erzählt hatte. Als Galen am Nachmittag die Waffen schärfte, empfand ich die damit verbundenen Geräusche als geradezu schicksalhaft. Sie taten mir in den Ohren weh und lenkten mich ab. Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben, Zwillinge, verbitterter Overlord, London in Gefangenschaft, gefoltert, wieder und wieder geheilt … Londons Flucht, alterslos, praktisch unsterblich … Ich schüttelte den Kopf und begann erneut, diesmal langsamer, mir die Begriffe herzusagen, die ich für Schlüsselwörter hielt: Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben, Zwillinge …
Bei dem Treffen mit der Hohepriesterin zu Verhandlungen vor dem Fall Hytanicas war London erneut gefangen genommen worden. Sie hatte ihn mit zurück nach Cokyri genommen, ohne dass der Overlord davon erfahren hatte. Er war im Tempel der Hohepriesterin festgehalten worden … Und jetzt wusste ich auch, warum. Aber inwiefern konnte mir das nützen?
Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben …
Abrupt richtete ich mich auf, weil mir mit einem Mal ein Licht aufgegangen war. Ich sprang auf die Füße, eilte zur Hohepriesterin und kniete mich neben sie, ohne auf Halias’ alarmierten Gesichtsausdruck zu achten.
»Wenn Ihr eine Tochter zur Welt brächtet, was würde dann aus Eurer Zauberkraft und der Eures Bruders?«
»Alera, was hast du –«, hob der Elitegardist an, doch ich hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten.
»Das weiß niemand«, antwortete Nantilam und musterte mich durchdringend, was vielleicht ein Hinweis darauf war, dass ich der Sache langsam näherkam. »Einen Fall wie den unseren hat es bislang noch nie gegeben. Aber wie auch immer die Weitergabe der Magie erfolgt, sie stünde meiner Tochter zu.«
»Dann
Weitere Kostenlose Bücher