Alera 02 - Zeit der Rache
großen körperlichen Anstrengung zurück, sondern nicht zuletzt, weil ich diejenige war, die dies hier initiiert hatte und es daher auch zu Ende bringen sollte. Er und ich hatten seit seiner unerwarteten Genesung noch kaum miteinander gesprochen, doch sein Verhalten verriet mir, dass er mich mit neu entdecktem Respekt betrachtete.
Der Weg, den wir dann zurücklegten, erschien mir als der längste von allen. Selbst länger als damals in der Nacht, als wir aus dem Schloss geflohen waren. Furcht und Misstrauen plagten uns bei jedem Schritt, denn die Cokyrier waren nun einmal berüchtigt für ihre Falschheit. Ich spürte zwar auch Zuversicht und freudige Erwartung, denn obwohl wir unser Heimatland würden verlassen müssen, waren unsere Untertanen frei und damit hatten wir die Chance, irgendwo ein neues Hytanica zu gründen.
Als wir wachsam auf die Lichtung kamen, war der Overlord bereits zugegen. Und obwohl der Schnee schon schmolz und ein lauer Frühlingswind mir das Haar zerzauste, schien die Gegenwart des Kriegsherrn einen eisigen Schatten auf alles zu werfen und mir jegliche Hoffnung aus den Tiefen meiner Seele zu rauben. Ich schloss kurz die Augen und versuchte, meine Furcht abzuschütteln.
Narian war wieder an der Seite seines Herrn und Meisters. Er hielt London. Ich musterte den jungen Mann genau und suchte nach Anzeichen dafür, dass er immer noch der Junge war, in den ich mich einst verliebt hatte. Als seine strahlend blauen Augen auf meine trafen, hatte ich meine Antwort gefunden. Die Sorge darin war unübersehbar. Egal, ob Narian näher bei Cannan oder dem Overlord stand, er würde stets mir zur Seite stehen.
London war völlig reglos. Sein Kopf hing auf seine Brust herab, und ich fragte mich, ob wir Nantilam nicht vielleicht gegen einen Leichnam tauschen würden. Cannan hatte die Hohepriesterin vor sich gezogen und benutzte sie als Schild gegen die Magie des Kriegsherrn. Außerdem hielt er ihr einen Dolch an die Kehle. Er war gewillt, sie zu töten, wenn es sein musste, und wollte sichergehen, dass ihr Bruder keine Chance hätte, dies zu verhindern.
»Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt«, stellte der Overlord eisig fest. »Jetzt gebt mir meine Schwester zurück.«
»Zuerst London«, erwiderte ich sofort mit fester Stimme. »Denn wir genießen einen ehrenwerteren Ruf, als Cokyri ihn je haben wird.«
Verächtlich starrte er mich an. Voller Hass, erneut in Zugzwang zu sein, doch schließlich gab er Narian brummend ein Zeichen, den stellvertretenden Hauptmann weiter vorzuschaffen.
»Lass ihn da fallen«, befahl er, als Narian die halbe Entfernung zu uns zurückgelegt hatte.
Und auch wenn Narian sicher gewartet hätte, bis Halias zur Stelle gewesen wäre, um ihn sanfter zu übernehmen, gehorchte er seinem Gebieter ohne zögern und ließ London unverzüglich hart auf die Erde fallen. Dann trat er einige Schritte zurück. Als Halias seinen immer noch reglosen Kameraden erreicht hatte, fasste er ihn unter den Achseln und zog ihn hinter uns in den Schutz des Waldes.
»Und jetzt meine Schwester«, verlangte der Overlord, während Cannan schon das Messer fortnahm. Er schnitt damit die Fesseln an ihren Händen durch. Dann nahm er Nantilam die Binde von den Augen und stieß sie vorwärts. Sie fand rasch ihr Gleichgewicht wieder und schritt so würdevoll wie immer zu der Seite, auf die sie gehörte. Da machte auch Narian kehrt und folgte ihr.
»Damit sind wir hier fertig«, erklärte der Hauptmann nüchtern und zugleich wachsam, denn nun hatte der Overlord keinen Grund mehr, uns zu verschonen. Also begannen Cannan und ich vor den Feinden in Richtung des schützenden Waldes zurückzuweichen. Dort wartete auch Halias mit London.
»Sind wir das wirklich?« Der Overlord verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ein beunruhigendes Grinsen umspielte seine Lippen. Seine ganze Erscheinung war eine unausgesprochene Drohung. »Und ich hatte gedacht, wir würden uns vorher noch ein wenig besser kennenlernen.«
»Geht, Alera«, riet mir Cannan mit Nachdruck. »Sofort.«
Ich konnte die Anspannung des Hauptmannes in Erwartung einer Gefahr neben mir spüren. Rasch warf ich einen Blick zu Narian, dessen Körperhaltung sich ebenfalls geändert hatte und mir seine gesteigerte Wachsamkeit verriet.
»Ja, Alera, geht«, höhnte der Overlord. »Flieht wie ein Feigling und lasst Euren Hauptmann zurück. So wie er selbst geflohen ist und seinen Bruder zurückgelassen hat. Oder erweist Euch als würdige Königin und
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