Alex Cross 07 - Stunde der Rache
aus, sondern stand auf und lief durch das leere Haus an der Fifth Street.
Ich ging durch sämtliche Räume. Ich hatte das Gefühl, ein schreckliches Unglück verhüten zu müssen, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. Die Liste der möglichen Opfer Kyles ging mir ständig durch den Kopf: meine Familie, Sampson, Christine, Jamilla Hughes, Kate McTiernan, meine Nichte Naomi, Kyles eigene Familie.
Ich vermochte das Bild von Zach und Liz nicht zu verdrängen. Man hatte sie in der Blüte ihres Lebens kaltblütig ermordet – wegen mir. Endlich konnte ich mich übergeben. Das war das Beste, das mir an diesem Tag passierte. Ich kotzte mir die Eingeweide heraus. Dann schlug ich mit dem Handballen gegen den Spiegel im Bad.
Verdammt! Kyle war mir immer einen Schritt voraus, richtig? So war es seit Jahren, und so war es jetzt. Er war ein unglaublicher Wichser.
Er war unvorstellbar arrogant und selbstsicher. Er glaubte, uns jederzeit entkommen zu können, wenn er das wollte. Was kam als Nächstes? Wen würde er töten? Wen? Wen?
Wie hatte er sich nach dem Doppelmord in Luft auflösen können? Wie konnte er untertauchen und unsichtbar werden, wenn so viele Menschen nach ihm fahndeten.
Er hatte Geld – dafür hatte Kyle gesorgt, als er Superhirn spielte. Was kam als Nächstes?
Ich saß noch bis spät in die Nacht am Computer. Der PC stand neben meinem Schlafzimmerfenster. War er da draußen und beobachtete mich? Nein, selbst Kyle würde ein derartiges Risiko nicht eingehen. Aber, verdammt, wie konnte ich irgendetwas ausschließen?
Er war zu einem Massenmord in großem Maßstab fähig. Wenn das sein Plan war, wo würde er zuschlagen? Washington? New York City? Los Angeles? Chicago? Seine Heimatstadt Charlotte, North Carolina? Irgendwo in Europa, vielleicht London?
War Kyles Familie sicher – seine Frau, sein Sohn, seine Tochter? Ich hatte einmal mit ihnen im Sommer Urlaub gemacht und im Laufe der letzten Jahre mehrmals bei ihnen in Virginia übernachtet. Seine Frau Louise war mir eine liebe Freundin. Ich hatte ihr versprochen, Kyle – wenn möglich – lebend festzunehmen. Aber jetzt war ich nicht sicher, ob ich dieses Versprechen halten konnte. Was würde ich tun, wenn ich Kyle in die Finger bekam?
Vielleicht würde Kyle seine Eltern aufs Korn nehmen, weil er seinem Vater große Schuld an seinem Verhalten gab. William Hyland Craig war in der Armee General gewesen, danach Aufsichtsratsvorsitzender der beiden Fortune-500-Firmen in und um Charlotte. Jetzt hielt er für zehn- bis zwanzigtausend Dollar Vorträge, und er saß in einem halben Dutzend Aufsichtsräten. Er hatte Kyle als Kind geschlagen, grausam diszipliniert und ihn gelehrt zu hassen.
Geschwisterrivalität! Kyle hatte das oft erwähnt. Bis zu Blakes Tod 1991 hatte er mit seinem jüngeren Bruder heftig konkurriert. Hatte Kyle Blake umgebracht? Offiziell war es ein Jagdunfall gewesen. Was war mit dem älteren Bruder, der noch in North Carolina lebte?
Sah Kyle in mir seinen jüngeren Bruder Blake? Er konkurrierte mit mir und hatte sich von Anfang an bemüht, mich zu kontrollieren. Die Frauen in meinem Leben hatten vielleicht für ihn eine Bedrohung dargestellt, eine extreme Variante von Geschwisterrivalität. Hatte er deshalb Betsey Cavalierre ermordet? Was war mit Maureen Cooke in New Orleans? Und mit Jamilla?
Ich nahm mir vor, ein Dreieck für gestörte Familienbeziehungen für Kyle und mich zu erstellen.
Einen Schritt voraus.
Bis jetzt.
Wenn er seinen Eltern oder seinem Bruder etwas antun wollte, hatten wir ihn. Sie waren in Charlotte gut geschützt. Überall wimmelte es von FBI-Leuten.
Das wusste Kyle. Etwas so Dummes würde er nicht tun –
aber jederzeit etwas Grausames.
Einen Schritt voraus.
Das schien der Schlüssel zu Kyles Fantasieleben zu sein, zumindest hatte ich den Eindruck. Er würde nie das tun, was wir erwarteten. Nein, er würde mindestens einen Schritt, vielleicht zwei Schritte, weitergehen. Aber wie konnte er einen Schritt voraus sein – besonders jetzt? Ein sehr schlimmer Gedanke plagte mich seit geraumer Zeit. Vielleicht half ihm jemand beim FBI – vielleicht hatte Kyle einen Partner.
Schließlich war ich eingeschlafen, als das Telefon mich
weckte. Es war drei Uhr morgens. Verdammt! Schläft er nie?
Ich riss den Stecker aus dem Schalter.
Kein Telefonterror mehr, Kyle. Leck mich!
Ab sofort stellte ich die Regeln auf. Das war jetzt mein Spiel, nicht seines.
107
M orgens trank ich zu viel schwarzen Kaffee und
Weitere Kostenlose Bücher