Alex Cross 07 - Stunde der Rache
ich es eigentlich hätte wissen können. Mrs Craig erzählte mir sehr viel über ihre Familie.
»Kyles Vater und ich hatten keine Ahnung, keinen Hinweis auf die dunkle Seite seines Charakters, falls diese grauenvollen Anschuldigungen tatsächlich richtig sind«, sagte sie. »Kyle war immer zurückhaltend, reserviert, introvertiert. Aber nichts wies darauf hin, dass er so litt. In der Schule und im Sport war er gut. Kyle spielte sogar wunderschön Klavier.«
»Ich wusste nicht, dass er Klavier spielte«, sagte ich. Kyle hatte oft abschätzige Bemerkungen über mein Spiel gemacht. »Haben Sie oder sein Vater ihm je gesagt, dass er gut war – zum Beispiel in der Schule? Im Sport? Ich vermute, Kinder müssen Lob viel öfter hören, als uns klar ist.«
Mrs Craig war beleidigt. »So was wollte er nie hören. Er sagte nur ›ich weiß‹ und ging, als hätten wir ihn enttäuscht, etwas so Offensichtliches auszusprechen.«
»Waren Kyles Brüder in der Schule besser als er?«
»In Bezug auf Noten – ja. Aber alle Jungs waren Einserschüler. Die meisten Lehrer hielten Kyle für hochintelligent. Ich glaube, er hatte den höchsten IQ – hundertneunundvierzig, wenn ich mich recht erinnere. Er war wählerisch in Bezug auf die Fächer, in denen er sich anstrengte. Er hatte schon als kleiner Junge einen starken Willen.«
»Aber es gab keine auffälligen Anzeichen, dass er ernsthaft gestört war?«
»Nein, Detective Cross, glauben Sie mir, ich habe viel darüber nachgedacht.« »Kyles Vater würde das alles bestätigen?«
»Ja, wir haben erst gestern Abend darüber gesprochen. Er ist meiner Meinung. Er ist nur zu aufgebracht, um hier zu sein. Kyles Vater ist ein stolzer Mann und ein guter. William Craig ist ein sehr guter Mann.«
Als Nächsten besuchte ich Kyles Bruder. Ich sprach mit Dr. Craig in einem strahlend weißen Konferenzzimmer in der Klinik in Charlotte, in der er einer der Partner war.
»Ich kenne Kyle als ätzend sarkastisch und sehr grausam. Mein Bruder Blake war derselben Meinung«, gestand er mir bei einer Tasse Tee. »In welcher Hinsicht grausam?«, fragte ich.
»Nicht gegen kleine Tiere oder so – gegen andere Menschen. Nein, Kyle mochte Tiere, aber er war in der Schule verbal und körperlich grausam. Ein echtes Arschloch. Niemand mochte ihn. Er hatte meines Wissens auch keine Freunde. Das ist doch eigenartig, oder? Kyle hatte nie einen einzigen engen Freund. Ich sage Ihnen etwas, Detective: Unser Vater zwang Kyle, in der Garage zu schlafen, als er fünfzehn und sechzehn war, weil er einfach unausstehlich war.«
»Das scheint mir etwas heftig zu sein«, meinte ich. Bis jetzt war nichts, was ich gehört hatte, wirklich etwas Neues. Kyle hatte diese Bestrafung nie erwähnt. Auch Mrs Craig nicht. Sie hatte nur behauptet, Kyles Vater sei ein guter Mensch, was immer das bedeutete.
»Ich halte die Bestrafung nicht für zu streng, Detective, sondern für fair. Eigentlich hätte er Schlimmeres verdient. Die Eltern hätten Kyle aus dem Haus werfen sollen, als er dreizehn war. Mein Bruder war ein gottverdammtes Ungeheuer – und offenbar ist er das immer noch.«
111
W en würde Kyle als Nächsten töten? Von dieser Frage war ich regelrecht besessen. Ich konnte an nichts anderes denken. Als ich abends nach Hause kam, überlegte ich mir, nach Seattle zu fliegen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ein verdammt ungutes Gefühl! Sollte ich hinfliegen? Wollte Kyle Christine Johnson töten? Er wusste, wo er mich am schmerzlichsten treffen konnte. Kyle kannte mich sehr gut – aber ich kannte Kyle offenbar überhaupt nicht.
Wollte Kyle Christine töten? Oder vielleicht Jamilla? Dachte ich in denselben Bahnen wie Kyle? Einen Schritt voraus. Verdammt, geh zur Hölle, Kyle.
Vielleicht wollte er aber nur mich. Vielleicht sollte ich im Haus an der Fifth Street bleiben und warten, bis er auftauchte. Die Frage brannte in meinem Kopf. Was übersahen wir alle, die nach Kyle suchten? Was wollte er – mehr als alles andere in der Welt? Was motivierte ihn? Wer stand auf Kyles Opferliste – außer mir natürlich?
Kyle wollte seinen Willen durchsetzen, aber er war süchtig nach exquisiten und verbotenen Vergnügungen. In der Vergangenheit hatten ihn Sex, Vergewaltigung, Geld – Millionen von Dollar – und Rache motiviert.
Um halb zwei ging ich endlich ins Bett, aber Überraschung, Überraschung, ich konnte nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Kyles Gesicht. Er grinste selbstsicher und
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