Alex Cross 07 - Stunde der Rache
haben immer als Team gearbeitet. In gewisser Weise wäre es der krönende Moment meiner Karriere, wenn ich mich selbst fangen würde. Ich habe sogar darüber nachgedacht, es mir ausgemalt. Welche größere Herausforderung könnte es geben? Mir fällt keine ein. Ich gegen mich.« Wieder lachte er hysterisch.
Ich musste mich zwingen, nicht noch mal zu fragen, wen er ermordet hatte. Das würde Kyle nur wütend machen. Vielleicht würde er dann auflegen. In meinem Kopf drehte sich alles. Christine? Kate? Jamilla?
Jemand beim FBI? Wen? O Gott, wer war es? Hab Erbarmen, hob Mitleid. Beweise mir, dass du ein Mensch bist, du Ungeheuer.
»Ich bin kein hochkarätiger Psychologe wie du, aber hier kommt die Theorie eines Amateurs«, sagte Kyle. »Ich glaube, diese Taten aus blinder Wut könnten eine Rivalität unter Geschwistern sein. Möglich, oder? Alex, du weißt, dass ich einen jüngeren Bruder hatte. Er wurde auf dem Höhepunkt meines Ödipus-Komplexes geboren, als ich gerade zwei war. Er hat mich bei meiner Mutter und meinem Vater verdrängt. Überprüfe das, Alex. Erkundige dich in Quantico. Könnte wichtig sein.«
Er war ruhig und machte mich lächerlich – als Psychologen und Detective.
Meine Hände zitterten. Mir reichte es. »Wen hast du diesmal getötet?«, brüllte ich ins Telefon. »Wen?«
Kyle brach mir das Herz. Er schilderte mir die Morde, die er begangen hatte, in allen Details. Ich war sicher, dass er die Wahrheit sagte.
Dann legte er auf, als ich ihn in die Hölle wünschte.
Gleich darauf saß ich im Auto. Mit Tränen in den Augen, benommen, raste ich durch Washington zum Tatort des grauenvollen Mords.
105
N ein! Nein! Nein!
Das hatte ich nicht erwartet. Es war, als hätte man mir ein Messer ins Herz gestoßen und dann umgedreht, bis ich schrie. Kyle hatte mir furchtbar wehgetan – und er wollte mir etwas sagen: Es wird noch schlimmer. Das war erst der Anfang. Stumm stand ich im Schlafzimmer von Zach und Liz Taylor. Tränen hinderten mich daran, klar zu sehen. Zwei meiner treuesten Freunde waren tot. Wie oft war ich zu ihnen gekommen – zu Partys, Abendessen und Gespräche bis tief in die Nacht. Zach und Liz waren auch sehr oft bei uns gewesen. Zach war Klein-Alex' Taufpate.
Mein einziger Trost war, dass sie schnell gestorben waren. Wahrscheinlich war Kyle nervös, weil er nicht erwischt werden wollte. Er wusste, dass er schnell in ihre Wohnung im AdamsMorgen-Viertel von Washington eindringen und noch schneller verschwinden musste.
Aus welchen Gründen auch immer, er hatte die Taylors mit je einem Kopfschuss getötet. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Leichen zu schänden. Die Botschaft las ich deutlich: Es ging nicht um diese beiden. Es ging um ihn und mich.
Zach und Liz Taylor waren ihm völlig egal gewesen, und das
war vielleicht das Schlimmste: Wie leicht er töten konnte, und
wie sehr er mir wehtun wollte.
Das war erst der Anfang.
Es würde schlimmer werden.
Es gab am Tatort keinerlei Hinweise von blinder Wut. Ich hatte das Gefühl, als hätte Kyle in diesem Schlafzimmer Skrupel gehabt. Kyle, Kyle, hab Mitleid mit uns.
Ich machte mir geistig Notizen – nicht nötig, sie aufzuschreiben. Ich kannte alle grausigen Details auswendig. Nie würde
ich sie vergessen, bis zum Tag meines Todes.
Die Schüsse hatten die Seiten der Gesichter weggerissen. Ich musste mich zwingen, hinzuschauen. Ich erinnerte mich daran, wie sehr sich die beiden geliebt hatten. Zach hatte mir mal gesagt: »Liz ist der einzige Mensch, mit dem ich lange Autofahrten genieße.« Das war für ihn der Test. Nie fehlte es ihnen an Gesprächsstoff. Während ich sie betrachtete, fühlte ich mich innerlich ausgehöhlt. Was für eine schreckliche Verschwendung, die reinste Horrorshow.
Ich ging zu einem großen Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Das Cafe Lautrec unten war geschlossen. Ich dachte an Kyle auf der Flucht. Was überlegte er? Wohin floh er? Ich wollte ihn fangen. Nein, ich wollte Kyle töten. Ich wollte ihm so weh wie nur möglich tun.
Sergeant Ed Lyle von der Spurensicherung kam zu mir. »Tut mir Leid. Mein Beileid. Was sollen wir tun, Detective? Wir sind bereit, loszulegen.«
»Skizze, Video, Fotos«, sagte ich zu Lyle. Aber eigentlich
brauchte ich das alles nicht. Ich brauchte keine weiteren
schriftlichen Beweise.
Ich wusste, wer der Mörder war.
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G egen ein Uhr nachmittags kam ich nach Hause. Ich musste schlafen. Aber schon nach wenigen Stunden hielt ich es im Bett nicht mehr
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