Alex Cross - Cold
einfach nur dastand und zusah, wie irgendein anderer diesen ganzen Wahnsinn erleben musste.
Ja, na klar, dachte Ethan. Im nächsten Leben vielleicht.
2
Agent Findlay brachte Ethan und Zoe schnell und professionell aus dem Blickfeld ihrer gaffenden Mitschüler und, noch schlimmer, derjenigen, die ihre iPhones in die Höhe hielten: Hallo, YouTube! Innerhalb weniger Sekunden stand er mit ihnen in der leeren Aula, gleich neben der Eingangshalle.
Bevor eine Bildungsstiftung der Quäker das Anwesen übernommen und zur Schule umfunktioniert hatte, war die Branaff School das Hofgut Branaff gewesen. Hartnäckig hielt sich unter den Schülern das Gerücht, dass hier Gespenster ihr Unwesen trieben, und zwar nicht die Geister der guten Menschen, die hier gestorben waren, sondern die der verärgerten Nachfahren der Branaffs, die hatten weichen müssen, um einer Privatschule Platz zu machen.
Ethan glaubte zwar nicht an diesen ganzen Mist, aber die Aula war ihm schon immer besonders unheimlich vorgekommen. An den Wänden hingen alte Ölporträts, von denen aus jeder, der an ihnen vorbeikam, mit missbilligenden Blicken bedacht wurde.
»Dir ist doch klar, dass der Präsident das erfahren wird, Zoe. Die Schlägerei, deine Ausdrucksweise gerade eben«, sagte Agent Findlay. »Und Direktor Skillings natürlich auch...«
»Na klar, machen Sie einfach, wofür Sie bezahlt werden«, erwiderte Zoe und zuckte die Achseln. Sie legte ihrem Bruder die Hand auf den Kopf, »Alles in Ordnung, Eth?«
»Alles bestens«, sagte er und schob sie weg. »Körperlich jedenfalls.« Seine Würde stand auf einem anderen Blatt, aber das war ihm jetzt zu kompliziert, darüber konnte er im Moment nicht nachdenken.
»Wenn das so ist«, meinte Findlay, »dann sollten wir uns nicht länger aufhalten, in fünf Minuten fängt der Vortrag an.«
»Na klar«, meinte Zoe mit einer abfälligen Handbewegung. »Der Vortrag. Wie könnten wir den vergessen?«
Die Gastrednerin des heutigen Vormittags war Isabelle Morris, eine der führenden Mitarbeiterinnen des Instituts für Internationale Politik in Washington, D. C., und außerdem ehemalige Schülerin der Branaff School. Im Gegensatz zu fast all seinen Mitschülern freute sich Ethan auf Ms Morris’ Vortrag über ihre Erfahrungen im Nahen Osten. Er wollte später auch für die Vereinten Nationen arbeiten. Warum nicht? Er hatte schließlich ziemlich gute Beziehungen, nicht wahr?
»Können Sie uns vielleicht einen winzig kleinen Augenblick alleine lassen?«, wandte Zoe sich an Findlay. »Ich würde gerne kurz mit meinem Bruder reden... unter vier Augen.«
»Ich hab doch gesagt, alles in Ordnung. Kein Problem«, beharrte Ethan, doch seine Schwester brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
»Er kann irgendwie freier reden, wenn Sie nicht dabei sind«, fuhr Zoe als Reaktion auf Findlays skeptischen Blick fort. »Und hier hat man ja nicht oft die Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch, wenn Sie verstehen. Bitte nehmen Sie’s nicht persönlich.«
»Kein Problem.« Findlay warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Einverstanden«, sagte er dann. »Aber nicht mehr als zwei Minuten.«
»Zwei Minuten, okay. Wir kommen gleich raus, ich versprech’s«, sagte Zoe und drückte die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss.
Ohne ein Wort zu Ethan glitt sie zwischen den alten Sitzbänken hindurch ans hintere Ende des Saals. Dort hüpfte sie auf den Heizkörper unter dem Fenster.
Sie schob die Hand in den blaugrauen Blazer ihrer Schuluniform und holte eine kleine schwarze Lackschachtel heraus. Ethan erkannte sie sofort. Die hatte seine Schwester sich in Peking gekauft, wo sie im Sommer zusammen mit ihren Eltern gewesen waren.
»Ich brauch jetzt ’ne Kippe«, flüsterte Zoe. Dann grinste sie verschlagen. »Kommst du mit?«
Ethan warf einen Blick zur Tür. »Aber... ich will den Vortrag nicht verpassen.«
Zoe verdrehte die Augen. »Oh, ich bitte dich. Bla bla bla, der Nahe Osten, bla bla. Das kriegst du doch alles auf CNN zu sehen, jeden Tag in der Woche, rund um die Uhr. Aber wann hast du schon mal die Gelegenheit, dem Secret Service ein Schnippchen zu schlagen? Nun komm schon !«
Ethan steckte schwer in der Klemme, und das wusste er auch. Entweder sah er wieder einmal so aus wie der letzte Feigling, oder er würde den Vortrag verpassen, auf den er sich schon die ganze Woche gefreut hatte. Es gab kein Entrinnen.
»Es wäre aber besser, wenn du nicht rauchen würdest«, sagte er
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