Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Handtasche, in der man problemlos ein Kleinkind hätte transportieren können. Mein erster Impuls war, mich mit einer fadenscheinigen Begründung zu verkrümeln. Aber sie sah mir so offen und voller kindlicher Erwartung ins Gesicht, dass ich es nicht über mich brachte. Wir setzten uns.
»Sie so gute Chef«, sagte sie, begleitet von einem bewundernden Blick, der mir ins Herz schnitt. »Rolfe immer gut reden.«
Mir wurde noch elender zumute.
»Letzte Wochen er so Menge Problemen, weil …« Sie fasste sich mit einer verlegenen Bewegung an die Stirn und atmete tief ein. »Ich so hoffen, gehen gut«, murmelte sie. »Ich so viel hoffen.«
»Bestimmt«, behauptete ich blöde. »Ganz bestimmt wird alles wieder gut.«
»Was mit Kindern? Wir so gute Kindern. Sieben Stück. Was werden, wenn Rolfe …?«
»Es wird gut gehen«, sagte ich heiser und hatte noch immer keinen Schimmer, was eigentlich genau Runkels Problem war. »Ich bin ganz sicher.«
»Danke. Danke.« Ein Tränchen kullerte die pralle Wange herunter. »Er so gute Mann. Rolfe, er … Rolfe meine Glück.«
Drei weiße Gestalten schoben im Laufschritt ein Krankenbett vorbei, die Gummiräder quiekten auf dem Plastikboden, die Türen fauchten auf, im nächsten Moment waren sie verschwunden. Ich hätte nicht einmal sagen können, ob in dem Bett ein Mensch gelegen hatte oder nicht. Plötzlich schien Sonnenlicht durch eines der Fenster, als wäre die Welt draußen schön und in Ordnung.
»Was hat er denn?«, wagte ich nach einigen schweigend verstrichenen Sekunden zu fragen. »Ich habe nicht gewusst, dass Ihr Mann krank ist.«
Wieder griff sie sich an den Kopf. Sah mich groß an und sagte: »Tubor.«
»Ein Tumor? Ein Gehirntumor?«
Sie nickte so schwach, als wäre es streng verboten, über dieses Thema zu sprechen.
»Er operieren. In drei Wochen er operieren. Früher keine Termin bei Professor. Rolfe … Letzte Zeit manche Mal bissele komisch. Manche Mal bissele komisch, ja. Aber gute Mensch. Rolfe beste Mensch von alle.«
In der Polizeidirektion lief mir als erster Mensch mein Anlageberater über den Weg. Als ich ihn bemerkte, war es zu spät, um ihm aus dem Weg zu gehen.
»Herr Dr. Kleinschmidt!«, rief er erfreut und drückte strahlend meine Hand. »Sind Sie etwa auch als Zeuge geladen?«
»Ich … ähm …« Dieses Mal war das »ähm« nicht gespielt. »Nein.«
»Na dann«, meinte er gut gelaunt. »Geht mich ja im Grunde auch nichts an, nicht wahr? Mir ist vergangene Nacht vielleicht eine Geschichte passiert, kann ich Ihnen sagen. Man denkt, man lebt in der Bronx. Hatten Sie denn schon Gelegenheit, über mein Angebot nachzudenken?«
»Leider nein«, erwiderte ich, inzwischen wieder gefasst. »Ich werde mich die nächsten Tage melden. Sie waren hier als Zeuge?«
Schiller nickte. »Stellen Sie sich vor, letzte Nacht ist vor meinem Haus einer erschossen worden! Knallbumm, einfach so, wie im Krimi. Und ich Schnarchnase habe die ganze Geschichte komplett verschlafen. Erst als die Bullerei bei mir geklingelt hat, habe ich mitgekriegt, was passiert ist. Direkt vor meiner Tür. Wann darf ich denn mit Ihrer Entscheidung rechnen? Die Interessenten rennen mir die Tür ein, und die Märkte sind äußerst volatil zur Zeit. Jeder möchte vor dem Jahreswechsel noch schnell seine Schäfchen ins Trockene bringen, wie man so schön sagt. Auch wenn Sie mir sehr sympathisch sind, ich kann leider nicht ewig …«
»Morgen«, versprach ich tapfer lächelnd. »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Spätestens morgen hören Sie von mir.«
»Sie sind ein kluger Mann, Herr Dr. Kleinschmidt. Wenn ich das sagen darf, ein sehr kluger Mann sind Sie.«
»Ich hoffe es«, erwiderte ich müde.
Die Spuren, in die wir unsere Hoffnungen setzten, waren: ein Hemdknopf, der Stummel einer selbst gedrehten filterlosen Zigarette, das wenige an Blut und Gewebematerial, das man unter Runkels Fingernägeln hervorgekratzt hatte, und das Video aus der Straßenbahn. Hemdknopf und Zigarettenstummel hatte die Spurensicherung in der Garageneinfahrt gefunden. Es war jedoch nicht auszuschließen, dass der Stummel schon seit Längerem dort gelegen hatte. Der Knopf dagegen schien frisch zu sein, sonst hätte er schmutziger sein müssen. Schiller rauchte Zigarillos, berichtete Balke. Runkel hatte in der Nacht ein Poloshirt unter einem dicken Pullover getragen. Darüber eine gefütterte Jacke mit vielen Taschen. Von ihm konnte der Knopf kaum stammen. Eine junge Kollegin war auf dem Weg nach
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