Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Augenblicke später saß mir Klara Vangelis gegenüber. Sie war die Einzige weit und breit, die nicht übernächtigt wirkte.
»Ich war noch mal beim Tatort draußen und habe ein Foto von Korte in der Nachbarschaft herumgezeigt«, sagte sie. »Ein Mann, der gegen halb zehn von der Arbeit gekommen ist, will gesehen haben, wie Korte aus Schillers Haus kam. Er sagt, er sei ihm um ein Haar ins Auto gelaufen und habe einen verstörten Eindruck gemacht.«
»Halb zehn ist eine Stunde zu früh.«
Sie nickte. »Plus/minus fünf Minuten. Der Zeuge ist sich sehr sicher mit der Uhrzeit.«
»Ich habe gerade überlegt, dass er vielleicht bei Schiller Geld angelegt hat und deshalb dort war.«
»Der Gedanke ist mir auch gekommen. Seine Freundin weiß leider wenig von seinen Geschäften. Er soll aber in der Vergangenheit hin und wieder spekuliert haben, meist mit Erfolg. Sie meint, dass es mit seiner Firma zurzeit nicht so gut läuft. Einer seiner größten Kunden, eine spanische Baufirma, ist vor Monaten bankrottgegangen und hat eine große Rechnung nicht bezahlt.«
Ich lehnte mich zurück, nahm die Brille ab, schloss für einen Moment die müden Augen. Das alles passte schon fast zu perfekt zusammen. Korte will sich einen Teil seines Geldes auszahlen lassen, um damit seine Firma zu retten. Aus irgendeinem Grund wird man sich jedoch nicht einig. Daraufhin fährt Korte mit der Straßenbahn in die Stadt, um sich – vielleicht bei seiner unbekannten Geliebten? – eine Waffe zu besorgen. Und anschließend Schiller damit zu bedrohen und gefügig zu machen?
»Runkel hat übrigens Protokoll geführt.« Vangelis riss mich aus meinen Grübeleien und legte einen kleinen zerfledderten Spiralblock auf den Tisch. »Er hat in einer Außentasche seiner Jacke gesteckt. Und die Jacke war natürlich mit ins Krankenhaus gewandert. Deshalb haben wir ihn jetzt erst gefunden.« Ihr Zeigefinger deutete auf eine bestimmte Zeile. »Korte hat zweiundzwanzig Minuten nach neun bei Schiller geklingelt. Sie haben sich begrüßt wie gute Bekannte und sind hineingegangen. Die beiden sind übrigens Mitglied im selben Golfclub, habe ich herausgefunden. Acht Minuten später ist Korte wieder herausgekommen. Auch Runkel ist aufgefallen, dass er aufgeregt war und nicht zu seinem Audi gelaufen ist, sondern bergab, in Richtung Rohrbacher Straße.«
»Zur Haltestelle.«
»Was später kommt, passt leider nicht mehr zu unserer Hypothese. Korte ist um dreizehn Minuten vor elf wiederaufgetaucht – die Bahn hält unten um zwanzig vor – und hat ein zweites Mal bei Schiller geläutet. Dieses Mal hat er allerdings gar nicht erst aufgemacht.«
»Und was hat Korte anschließend gemacht?«
»Das steht hier leider nicht.« Vangelis zuckte die wohlgeformten Schultern unter Nadelstreifentuch. »Wenige Minuten später muss Runkel den Wagen verlassen haben. Leider hat er nicht notiert, aus welchem Grund. Vielleicht hat Korte es zum dritten Mal versucht?«
»Warum hätte Runkel ihn dann nicht schon bei den ersten beiden Malen aufgehalten?«
»Vielleicht hatte Korte dieses Mal eine Waffe in der Hand? Vielleicht hat er versucht, gewaltsam ins Haus einzudringen, nachdem Schiller nicht aufgemacht hat?«
Kurz überlegten wir, ob es an der Zeit war, den Anlageberater mit unseren Überlegungen zu konfrontieren. Ich entschied mich jedoch dagegen. Noch war es zu früh. Ich brauchte einen Beweis, ein starkes Indiz, irgendetwas Handfestes, was ich ihm auf den Tisch knallen konnte.
Vangelis erhob sich und lächelte mich aufmunternd an. »Sven kümmert sich um Kortes Finanzen. Aber ich bin jetzt schon überzeugt, dass wir richtig liegen. Der Mann steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Und finanzielle Schwierigkeiten sind immer ein gutes Motiv für alles Mögliche.«
Eine Stunde und vierzehn Minuten später wurde Jan Korte gefunden. Eine von ihrem Golden Retriever begleitete Joggerin fand seine Leiche unweit von Schillers Haus. Der Hund, der normalerweise aufs Wort gehorchte, war plötzlich in den Wald gelaufen und hatte am Fuß einer großen Buche laut gebellt.
Der Softwareunternehmer hatte sich mithilfe seines Schweizer Taschenmessers die Pulsadern aufgeschnitten. Nur dreihundert Meter von Schillers Haus entfernt. Nach der Art seiner Verletzungen zu schließen, hatte er sich bei seinem Selbstmord reichlich ungeschickt angestellt. Aber am Ende hatte er Erfolg gehabt. Den letzten, traurigen Erfolg seines Lebens. Fremdverschulden konnte schon nach dem ersten Augenschein
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