Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Meckesheim, um der Lebensabschnittsgefährtin des nach wie vor verschwundenen Softwareunternehmers das Video aus der Straßenbahn vorzuführen. All das erfuhr ich bei der Fallbesprechung, die ich auf elf Uhr anberaumt hatte.
Das DNA-Material war noch in der Nacht per Kurier nach Wiesbaden zum BKA geschafft worden, weil die Auswertung dort einige Stunden weniger dauern würde als in den Labors des LKA in Stuttgart.
Im Raum herrschte eine Mischung aus betonschwerer Müdigkeit, Wut und Jagdfieber. Manche halblaut geäußerte Bemerkung handelte davon, dass man nicht zögern würde, den Typ abzuknallen, sollte er im falschen Moment mit der Wimper zucken. So sprach ich am Ende ein paar ernste Worte, warnte meine Leute vor Übereifer und falsch verstandener Solidarität.
Als ich das Zeichen zur Auflösung der Versammlung gab, surrte Balkes Handy. Er hörte einen Moment zu und sagte dann in die Runde: »Er ist es. Der Softwaretyp hat definitiv in der Bahn gesessen.« Dann wandte er sich an mich und sagte leiser: »Er soll übrigens die letzten Tage ziemlich merkwürdig gewesen sein, sagt seine Freundin.«
Alle, die schon halb gestanden hatten, fielen mehr oder weniger laut stöhnend auf ihre Stühle zurück.
»Merkwürdig?«, fragte ich. »Was genau heißt das?«
Balke legte sein Smartphone langsam auf den Tisch. »Wutausbrüche aus dem Nichts, vorübergehende geistige Abwesenheit und so. Sie meint, er hätte wohl irgendein größeres Problem gehabt, über das er nicht reden wollte.«
»Welcher Kerl redet schon gern über Probleme?«, fragte eine Kollegin zornig.
30
Nach einem hastig hinuntergeschlungenen Mittagsimbiss fügten sich die ersten Puzzleteilchen zusammen. Die DNA des Täters befand sich nicht in den Datenbanken des BKA, er war also nicht vorbestraft. Der Zigarettenstummel hatte schon länger dort gelegen, wo meine Mitarbeiter ihn gefunden und eingetütet hatten. Damit war er bedeutungslos. Der Hemdknopf stammte von Joop, wurde jedoch für eine ganze Reihe verschiedener Modelle verwendet.
Jan Korte, der verschwundene Softwareunternehmer, hatte bei seinem überstürzten Aufbruch ein Hemd getragen. Nach Meinung seiner Lebensgefährtin war das jedoch nicht von Joop, sondern von Seidensticker. Derzeit waren seine Zahnbürste und sein Kamm auf Blaulichtreise zum BKA. Sollte seine DNA mit der identisch sein, die Runkel von der Haut des Täters gekratzt hatte, war der Fall praktisch gelöst. Dann mussten wir den Mann im Joop-oder Seidensticker-Hemd nur noch finden.
Ich bat Sönnchen um den dritten Cappuccino des Tages und eine Stunde absolute Ruhe. Ich musste Klarheit schaffen in meinem Kopf. Dabei halfen mir meist ein Blatt Papier und ein Stift. Ich begann mit einer groben Skizze des Tatorts. Das Haus, die etwas zurückliegende Garageneinfahrt, der Opel, in dem Runkel gesessen und sich vermutlich Sorgen um seine Gesundheit und das künftige Schicksal seiner vielköpfigen Familie gemacht hatte. Und ich … Ich …
Schluss jetzt! Vorwürfe konnte ich mir machen, wenn der Täter hinter Gittern saß.
Weshalb war Runkel aus dem Wagen gestiegen? Er musste etwas beobachtet haben. Etwas, das ihn so sehr beunruhigt hatte, dass er seinen Posten verließ, um der Sache auf den Grund zu gehen. Etwas, das auf der anderen Seite nicht so dramatisch war, dass er es für nötig befand, mich zu informieren oder Verstärkung anzufordern.
Wenn Jan Korte zu Schillers Haus geschlichen war, mit welchem Ziel auch immer, dann hatte Runkel ihn vielleicht für einen Einbrecher gehalten. Womöglich für ein Mitglied der Kellertürenbande. Was aus seiner Sicht ein guter Grund für einen Alleingang gewesen wäre, nach der Blamage mit dem schrottreifen Dienstwagen. Eines war sicher: Er war an den Falschen geraten. Andererseits, fiel mir ein, im Zusammenhang mit der Kellertürenbande war bisher nie von Schusswaffen die Rede gewesen.
Ich nahm einen großen Schluck aus meiner Kaffeetasse, überlegte hin und her und kreuz und quer. Nein, ein Einbrecher schien mir doch zu weit hergeholt. Jeder vernünftige Dieb wäre getürmt und hätte keine Waffe gezückt. Also doch Korte? Was konnte er bei Schiller gewollt haben? Und weshalb mit einem Revolver in der Hand? Dass es sich bei der Waffe um einen Revolver handelte, schloss ich daraus, dass meine Leute keine Patronenhülse gefunden hatten. Hatte auch Korte bei Schiller Geld angelegt? Und verloren?
Als ich Sven Balkes Nummer wählte, um meine Theorie mit ihm zu diskutieren, klopfte es.
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