Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
ausgeschlossen werden. Die Leiche war bereits kalt, und die erste Schätzung des Arztes zum Todeszeitpunkt passte zu unserer Theorie: am Vorabend zwischen zehn und zwölf. Was meine Leute nicht bei Korte fanden, war die Waffe, deren Kugel Rolf Runkel getroffen hatte.
Ich forderte eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei und Hundeführer an, um noch vor dem Dunkelwerden das steile Waldstück am Berghang östlich von Schillers Haus absuchen zu lassen.
Um kurz vor fünf erreichte mich ein Anruf aus Wiesbaden auf dem Handy: Die Täterspuren unter Runkels Fingernägeln stammten nicht von Jan Korte. An dessen Armen und in seinem Gesicht waren auch keine Kratzspuren zu finden gewesen. Somit konnte er nicht der Täter sein. Dennoch ließ ich die Durchsuchung des Waldstücks fortsetzen.
Noch bevor ich diesen Tiefschlag verdaut hatte, meldete sich mein Telefon erneut.
»Ein Herr Knecht«, sagte Sönnchen. »Er will letzte Nacht einen Radfahrer gesehen haben, der ihm komisch vorgekommen ist. Ich weiß, Sie wollen nicht gestört werden, aber sonst ist keiner da.«
Der Anrufer hatte tatsächlich einen Radfahrer getroffen. Und zwar am gestrigen Abend um kurz nach elf. Einen kräftig gebauten Mann auf einem Mountainbike, der es auffallend eilig hatte.
»Ich arbeite am Max-Planck-Institut auf dem Königstuhl und fahre immer mit dem Rad zur Arbeit. Gestern ist es spät geworden, aber ich habe ein gutes Headlight, und die Strecke vom Königstuhl zur Panoramastraße runter ist ein Traum für Downhill-Freaks wie mich. Das letzte Stück hat es ziemlich in sich, aber ich kenne die Strecke im Schlaf …«
»Und da ist Ihnen ein anderer Radfahrer entgegengekommen.«
»Nee. Fast in mich reingekracht ist er, wie ich unten auf die Panoramastraße eingebogen bin.«
Die Panoramastraße verlief parallel zur Görresstraße etwas höher am Hang, wusste ich.
»Ich bin ein bisschen schnell unterwegs gewesen, gebe ich zu. Außerdem hat es geregnet wie blöd. Habe nicht gedacht, dass da außer mir noch wer auf der Strecke ist. Und wir sind um ein Haar zusammengerasselt. Der Typ hat mich ganz blöd angeguckt, ich habe mich entschuldigt, aber er hat gar nichts gesagt, ist einfach wieder aufgestiegen und weitergefahren.«
»In Richtung Rohrbach.«
»Richtig. Der Typ war ziemlich groß und bullig. Und sein Bike war ein weißes Cannondale. Ich hab nämlich eben erst von der Schießerei erfahren. Zurzeit komme ich kaum dazu, Nachrichten zu hören. Und da ist mir dieser Typ von gestern Abend wieder eingefallen.«
»Wegen der Uhrzeit sind Sie sich sicher?«
»Ich kenne die Strecke im Schlaf, und wie ich meine Wohnung aufgeschlossen habe, da war’s zwanzig nach elf.«
Wie wir feststellten, wohnte Herr Knecht ganz in meiner Nähe, ebenfalls in der Heidelberger Weststadt. Am Max-Planck-Institut war er als Techniker angestellt, und den steilen Weg zu seinem Arbeitsplatz legte er bei jedem Wetter mit dem Rad zurück.
»Morgens ist es ein bisschen mühsam.« Er lachte fröhlich. »Aber am Abend dann – ein Traum für jeden Downhiller. Da hat der Königstuhl schon einiges zu bieten.«
»Ist das nicht gefährlich, so im Dunkeln?«
»Ich habe einen guten Helm und Ellbogenschützer und alles. Natürlich haut es einen ab und zu hin. Dann steht man wieder auf und fährt weiter.«
Manche Menschen haben merkwürdige Leidenschaften.
»Haben Sie gesehen, wohin der Mann gefahren ist?«
»Hat mich nicht weiter interessiert, und außerdem habe ich anderes im Kopf gehabt. Wir haben seit Wochen Probleme mit einem Laborgerät, das wir dringend für ein Forschungsprojekt brauchen, und gestern war endlich der Servicetechniker aus Canberra da. Deshalb war ich auch so spät dran. Und so toll war sein Bike ja auch wieder nicht.«
Ich ließ mir das Mountainbike möglichst genau beschreiben und leitete die Daten an alle Reviere im Großraum Heidelberg weiter.
Wenige Minuten später kam Balke aus dem Wald zurück.
»Er hat keinen Brief hinterlassen oder so was«, berichtete er mit matter Stimme und fiel restlos erschöpft auf einen Stuhl. »Nicht mal eine Abschieds-SMS hat er seiner Süßen geschickt, bevor er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Vorhin hat mich übrigens einer seiner Mitarbeiter zurückgerufen. Die beiden haben zusammen studiert und waren so was wie Freunde.« Balkes linkes Augenlid zuckte im Sekundentakt. Er war wirklich am Ende. »Die Angestellten haben seit drei Monaten kein Gehalt mehr gesehen. Außerdem hat er bestätigt, dass Korte
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