Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Lea Lassalle suchen?«
»Tun Sie das. Vielleicht ist es ja auch nur eine fixe Idee. Vielleicht hat er es sich nur … Ach, ich weiß auch nicht.«
Vielleicht sollte ich jetzt einfach nach Hause gehen, überlegte ich, als ich den Hörer auflegte, und zusammen mit meinen Mädchen die notwendigen Vorbereitungen für einen gemütlichen Heiligabend erledigen. Aber ich blieb sitzen.
Kurze Zeit später klingelte mein Telefon.
»Fehlanzeige«, sagte Balke, als hätte er tatsächlich mit etwas anderem gerechnet. »Im System ist nichts über Lea.«
»Irgendeine Art von Protokoll wird er ja hoffentlich geschrieben haben.«
»Hoffentlich, ja.« Balke lachte, als wäre es völlig normal, dass bei uns Vorgänge einfach so verschwanden, Protokolle in Papierkörben landeten oder gar nicht erst angefertigt wurden. »Ich wühle mal seine Papierordner durch. Rübe hat’s ja nun mal nicht so mit Computern …«
»Das heißt, er verschlampt öfter mal Unterlagen?«
»Verschlampt ist das falsche Wort, Chef«, erwiderte Balke plötzlich ernst. »Es ist einfach nicht seine Welt. Er legt die Sachen oft falsch ab. In den falschen Verzeichnissen, mit den falschen Schlagworten oder ganz ohne. Hin und wieder habe ich ihm ein bisschen geholfen. Aber glauben Sie mir, es ist leichter, einem Goldfisch das Fliegen beizubringen. Ich nehme an, die Sache mit Lea – vielleicht hat er sie einfach nicht für wichtig genug gehalten, um sie mühsam ins System einzupflegen?«
Als Chef ist man oft erschütternd ahnungslos, wurde mir wieder einmal bewusst. Wozu hatten wir all diese wunderbaren Vorschriften? Wozu dachten wir uns pausenlos neue, noch perfektere, noch reibungslosere Prozesse aus, wenn sich am Ende doch kein Mensch daran hielt?
»Worum es bei der Sache ungefähr ging, hat er nicht gesagt?«, fragte Balke. »Eine Andeutung vielleicht? Irgendwas?«
»Er erinnert sich an nichts, außer dass er den Namen Lea schon mal gehört hat. Vor ein oder zwei Jahren. Er hat sie aber recht genau beschrieben. Er muss mit ihr zu tun gehabt haben.«
»War Lea vor einem Jahr nicht in Bad Homburg?«
Versuchsweise wählte ich Lassalles Nummer, und zu meiner Überraschung nahm er nach dem zweiten Klingeln ab.
»Sie war vergangenes Jahr über Weihnachten hier«, sagte er mit klarer Stimme. »Das stimmt. Vom zweiten Feiertag bis Silvester.«
33
»Das gute alte Schneeballsystem«, erklärte mir der Leiter des Betrugsdezernats kurz vor Mittag nach dem dritten Drohanruf meiner Töchter. Er war ein hagerer Westfale mit dünnem, blondem Haar. »Wir sind noch lange nicht durch mit den Unterlagen, aber soweit ich das bisher überblicke, war’s ein stinknormales Schneeballsystem. Man sammelt Geld ein von immer neuen Kunden und zahlt es an die Altkunden als Zinsen aus. Gibt anscheinend immer noch genug Dumme unter der Sonne, die auf so einen Quatsch reinfallen.«
Dieses eine Gespräch würde ich noch führen, hatte ich mir vorgenommen. Und dann würde ich mein Büro verschließen und nach Hause fahren und für die nächsten zwei Wochen nicht erreichbar sein.
»Das heißt, Schiller hat das Geld seiner Kunden überhaupt nicht angelegt?«
»Anfangs schon.« Er schob sich mit einer hektischen Bewegung eine seiner blonden Fransen aus der Stirn. »Anfangs hat er auch noch nicht solche aberwitzigen Zinsen geboten. Aber 2008, nach der Lehman-Pleite, hat er in wenigen Wochen fast alles verloren und hätte von Rechts wegen Bankrott anmelden müssen.«
»Und das hat er nicht getan.«
»Während der Boomzeit, wie die Kurse durch die Decke gingen, hat er wirklich als Anlageberater gearbeitet. Und er hat schon ein Näschen gehabt, rechtzeitig auf die richtigen Pferde zu setzen und vor allem rechtzeitig wieder auszusteigen.«
Ich lehnte mich bequem zurück und faltete die Hände im Nacken. Der Westfale schien gerne Knoblauch zu essen.
»Solange die Kurse nach oben gehen, macht ja jeder Idiot Gewinne«, fuhr er mit einem Blick zur Uhr fort. Vermutlich hatte auch er zu Hause Menschen sitzen, die allmählich nervös wurden. »Nach dem Crash ist Schiller dann auf das Schneeballsystem umgestiegen. Anfangs hat er wahrscheinlich geglaubt, er würde sich bald wieder berappeln und wieder legal arbeiten können. So läuft das meistens. Diese Typen denken, es ist nur eine Durststrecke, erst mal durchmogeln und hoffen, dass keiner was merkt, und nächstes Jahr läuft der Laden wieder. Und dabei reiten sie sich immer weiter rein. Das Rad, das so einer drehen muss, wird von Jahr zu
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