Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
schwierig. Das haben die schon tausend Mal gemacht. Bald sind Sie wieder gesund, Sie werden sehen.«
»In drei Wochen wollen sie operieren, hat der Professor gesagt. Erst muss ich wieder fit sein.«
»Haben Sie Schmerzen?«
Wieder schloss er kurz die Augen. »Geht schon«, sagte er fast unhörbar leise. »Bin ja kein kleines Mädchen.«
»Ich soll Sie übrigens von Balke und Krauss sehr herzlich grüßen.«
Seine Miene hellte sich für einen Moment auf. »Danke schön«, meinte er hustend.
Das Gespräch schleppte sich dahin, und am Ende wusste ich nicht, für wen von uns beiden es unangenehmer war.
»Brauchen Sie irgendwas?«, fragte ich schließlich. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Nein, nein«, murmelte Runkel. »Meine Frau kümmert sich schon … Sie ist so eine Seele. Jede freie Minute ist sie da. Vorhin sind sogar die Kinder da gewesen. Heut ist ja Weihnachten.«
»Dass wir den Kerl geschnappt haben, wissen Sie?«
»Ein Straßenbahnfahrer. Hab gedacht, es ist vielleicht einer von dieser Bande, Sie wissen schon. Er hat sich so komisch verhalten. Sich im Schatten rumgedrückt und dauernd um sich geguckt. Da hab ich gedacht …«
Runkel sah mir so traurig ins Gesicht, als müsste er immer noch Angst vor Bestrafung haben.
»Sie haben es gut gemeint. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Und die Kellertürenbande kriegen wir auch noch, das verspreche ich Ihnen.«
Diesen Hundeblick hatte ich kürzlich schon einmal gesehen, wurde mir bewusst. Diesen Blick voller Schuldbewusstsein und verschämter Unterwürfigkeit. Etwas braute sich rasend schnell in meinem Kopf zusammen. Da gab es eine Winzigkeit am Rande, etwas, das wichtig sein könnte. Entscheidend vielleicht. Jetzt war ich es, der die Augen schloss.
Ich hatte ihn beschimpft, erinnerte ich mich. Wieder einmal. Weil er Mist gebaut hatte. Wieder einmal. Wütend war ich gewesen, und da hatte er mich genauso angesehen, und dann hatte mein Telefon …
Sosehr ich mich bemühte, der Rest blieb im Nebel.
»Chef?«, fragte Runkel vorsichtig.
Ich öffnete die Augen wieder und verabschiedete mich. Wünschte meinem Unglücksraben alles Gute. Der bedankte sich artig. Als ich die Tür des Krankenzimmers hinter mir schloss, war ich erleichtert und fühlte mich schuldig.
Während der Rückfahrt zur Direktion war das Bild unvermittelt wieder da – aus dem Nichts. Lea. Es war um Lea gegangen. Zurück in meinem Büro, wählte ich die Nummer des Universitätsklinikums, Abteilung Unfallchirurgie, und bat darum, mich mit meinem verletzten Mitarbeiter zu verbinden. Es dauerte einige Sekunden, bis er am Apparat war.
»Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie bei mir waren und ich Ihnen gesagt habe, Sie sollen Ihren Schreibtisch aufräumen?«
»Ja klar.« Runkel räusperte sich. »Es tut mir immer noch so leid …«
»Das muss Ihnen jetzt nicht leidtun. Ich habe eine Frage. Mein Telefon hat uns unterbrochen, ich habe abgenommen und telefoniert, und Sie haben mich für einen Moment ganz komisch angesehen. Erinnern Sie sich?«
»Weiß nicht …«
»Warum haben Sie so geguckt?«
»Der Name«, nuschelte Runkel nach kurzem Nachdenken. »Lea – der ist mir schon mal untergekommen. Hört man nicht so oft, Lea.«
»Sie hatten ihn wahrscheinlich in den Tagen davor oft genug gehört.«
Wieder dauerte es mit der Antwort. Ich hörte Runkels unruhigen Atem.
»Das war’s nicht«, sagte er schließlich und hustete wieder. »Es ist früher gewesen.«
»Wie viel früher?«
»Sie ist dunkelhaarig, nicht wahr? Ungefähr achtzehn und eine ziemlich Freche?«
»Das passt, ja. Wann war das?«
»Weiß nicht«, flüsterte Runkel nun hörbar am Ende seiner Kräfte. »Schon lang her …«
»Ein Jahr?« Ich bemühte mich, meine Ungeduld zu unterdrücken. »Zwei? Drei?«
Runkel schien jetzt fast zu schlafen.
»Ein Jahr«, murmelte er endlich. »Maximal zwei. Mehr bestimmt nicht.«
»Sollte kein Problem sein, wenn Rübe seine Sachen ordentlich abgelegt hat«, meinte Balke gut gelaunt am Telefon.
In der Zwischenzeit hatten die Zwillinge zweimal angerufen und empört gefragt, ob die Bescherung dieses Jahr eigentlich ausfalle. Ich hatte ihnen erklärt, es gebe neue Entwicklungen in Sachen Lea. Diese Antwort hatte sie jedoch nicht zufriedengestellt. Wichtiger als Weihnachten war in ihren Augen nichts. Höchstens vielleicht ihr Geburtstag.
»Das mit dem ordentlichen Ablegen ist beim Kollegen Runkel ja leider ein Problem«, erwiderte ich.
»Soll ich einfach mal im System nach dem Namen
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