Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Tasse und gab mir fünf Minuten. Dann noch einmal fünf.
Nach elf Minuten surrte mein Handy.
»Was soll denn da Interessantes zu sehen sein?«, fragte Sarah schlaftrunken.
»Egal. Irgendwas.«
Sie gähnte ausgiebig. »Kann sein, er hat ein paar Kratzer hinten links«, sagte sie langsam. »Hat er beim Einparken wohl mal nicht aufgepasst. Wo steckst du eigentlich?«
Vorne rechts wäre passender gewesen. Ich versprach, bald nach Hause zu kommen, drückte den roten Knopf, legte das Handy zur Seite.
Auch die Farbe war natürlich falsch. Silbergrau kann man auch beim besten Willen und schlechter Beleuchtung nicht als dunkel bezeichnen. Und darin hatten die drei Zeugen übereingestimmt: Die Farbe des Unfallwagens war dunkel gewesen. Es war nicht die Originalfarbe, erinnerte ich mich. »Irgendwann mal neu lackiert«, hörte ich noch Balkes Stimme. Sollte der Lehrer vielleicht …?
Ich loggte mich ein zweites Mal beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg ein. Und plötzlich wurden meine Finger feucht. Plakowsky hatte seinen Mégane erst vor zwei Monaten zugelassen. Gebraucht gekauft, drei Vorbesitzer, auf seinen Namen eingetragen am siebzehnten Oktober. Auch davor hatte er einen Renault gefahren, einen Laguna, der noch älter war und – dunkelblau lackiert. Anfang Oktober hatte er ihn verkauft. Der Name des Käufers war nicht verzeichnet. »Export«, las ich.
Ich sah auf die Uhr. Viertel nach zehn. Ich rief meine Älteste zurück.
»Stimmt.« Sarah klang genervt. »Früher hat der Plako so ’ne blaue Rostlaube gehabt. Keine Ahnung, was das für ’ne Marke war.«
»War daran irgendwas Auffälliges?«
»Dass man dauernd gedacht hat, gleich fällt die Kiste auseinander.«
»Irgendwas«, drängelte ich. »Überleg noch mal. Irgendeine Kleinigkeit.«
»Ich frag mal Loui.«
Die offenbar auch schon aus dem Bett gefunden hatte. Ich hörte die beiden tuscheln.
Dann wieder Sarah: »Ein Aufkleber. Jetzt erinnere ich mich auch. Hinten links, auf dem Kofferraumdeckel.«
»Was für ein Aufkleber das war, fällt euch das noch ein?«
Wieder diskutierten sie.
»Ich geh mal in Facebook und frag rum, ob wer was weiß.«
Zwanzig Minuten später, um zehn vor elf, hatte ich die Antwort: Auf Werner Plakowskys dunkelblauem Renault Laguna hatte ein Love-Parade-Aufkleber gepappt.
»Da ist der früher jedes Jahr hingefahren. Hat er voll von geschwärmt. Die tolle Stimmung, die geile Musik und alles. Der Plako stammt aus Berlin, glaub ich. Oder hat da studiert. Jedenfalls ist er voll der Fan.«
Love Parade. Bei der letzten Veranstaltung dieser Art in Duisburg war Leas Mutter gestorben. Diesen Schriftzug würde das Mädchen bis an sein Lebensende nicht mehr vergessen und in jedem Zusammenhang erkennen, ohne auch nur richtig hinzusehen. So könnte es gewesen sein, so musste es gewesen sein: Lea hatte – vielleicht halb unbewusst – in der Unfallnacht den Aufkleber auf der Heckklappe des dunklen Wagens bemerkt. Und fast ein Dreivierteljahr später – als die großen Ferien zu Ende waren und sie in Heidelberg in die neue Schule kam – hatte sie den dunkelblauen Wagen auf dem Lehrerparkplatz wieder gesehen.
Und ihre Schlüsse gezogen.
Und, wer weiß, vielleicht war sie später auf die aberwitzige Idee gekommen, ihren Mathematiklehrer ein wenig zu erpressen.
36
Auch Oberstudienräte haben an Weihnachten frei und lieben es, an verregneten Tagen auszuschlafen. Als Werner Plakowsky mir um halb zwölf die Tür zu seiner Wohnung im Norden Oftersheims öffnete, dachte er zunächst, ich sei wegen meiner Töchter gekommen. Um den Überraschungseffekt auf meiner Seite zu haben, hatte ich mein Kommen nicht angekündigt.
»Gerlach war der Name, nicht wahr?«, fragte er freundlich lächelnd und schüttelte kräftig meine Hand.
»Ihr Namensgedächtnis möchte ich haben.« Ich lächelte zurück. »Dürften wir einen Moment hereinkommen?«
Er warf einen unsicheren Seitenblick auf Klara Vangelis, die neben mir stand, und kam zu dem Schluss, dass die junge Frau wohl kaum als Mutter meiner Töchter infrage kam.
»Frau …?«
Sie nannte ihren Namen und drückte ebenfalls seine Hand.
»Eine Kollegin«, erklärte ich.
»Aha. Na dann. Immer herein in die gute Stube.«
Nun doch etwas verwundert, schloss Plakowsky die Tür hinter uns. Unter seinem babyblauen Frotteebademantel trug er einen altmodisch gestreiften Pyjama und graue Filzpantoffeln. Sein Kinn war kantig, auf dem Kopf kräuselte sich widerspenstiges, dunkelbraunes Haar. Seine Bewegungen
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