Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
gehört hatte.
»Er war zu krank, um an dem Ausflug teilzunehmen, und dann fährt er mit dem Motorroller hinterher? Hat er euch erzählt, warum er sie am Freitag unbedingt treffen wollte?«
»Gar nichts hat er erzählt. Silke hat die zwei zufällig zusammen gesehen. Sie war bei den Mädels, die nicht ins Münster wollten. Und da hat sie Chip und Lea gesehen. Irgendwann gegen Mittag ist das gewesen. Wir haben ihn gestern darauf angesprochen, und am Ende hat er’s auch zugegeben. Dass er da war. Und Lea getroffen hat. Chip kann nicht lügen.«
»Er hat geheult, sagt Silke. Ganz verzweifelt soll er gewesen sein. Aber sie hat ihn natürlich bloß ausgelacht, die blöde Tussi.«
»Wo war das genau? Wo hat Silke die beiden gesehen?«
»Auf irgendeinem großen Platz. Mitten in der Stadt. Da war auch ein Weihnachtsmarkt, aber sie haben ganz am Rand gestanden, wo nicht so viel Gedränge war. Er hat sie am Arm angefasst, und sie hat ihn weggestoßen. Zweimal.«
»Hat er seine Mutter gestern Abend angerufen?«
»Hat keinen Bock gehabt auf Stress. Seine Mama ist echt ein bisschen gaga. Ständig führt sie sich auf, als wäre Chip noch ein Baby.«
Wie bestellt, surrte mein Handy auf dem Tisch.
»Dellnitz«, sagte die Stimme, die ich schon kannte. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie am frühen Morgen schon belästige. Mein Sohn ist immer noch verschwunden.«
»Henning ist in der Nacht nicht nach Hause gekommen?«
»Würde ich Sie sonst anrufen?«, erwiderte sie kühl.
Meine Töchter gaben mir alarmiert Zeichen, ich solle auf keinen Fall verraten, dass Henning am vergangenen Abend bei uns war.
»Ich denke, wir warten noch bis Mittag«, sagte ich in amtlichem Ton. »Ihr Sohn ist schließlich kein Kind mehr. Wenn er sich bis Mittag immer noch nicht gemeldet haben sollte, dann rufen Sie mich noch mal an.«
»Ich erwarte, dass Sie jetzt sofort etwas unternehmen«, versetzte sie. »Ich finde nämlich, ich habe allmählich lange genug gewartet. Es ist Ihre Pflicht als Polizeibeamter, mir zu helfen.«
»Ihr Sohn ist ein vernünftiger Junge, verehrte Frau Dellnitz. Und im Moment sitze ich mit meinen Töchtern beim Frühstück. Wenn Sie ihn unbedingt als vermisst melden wollen, dann rufen Sie einfach das für Sie zuständige Polizeirevier an.«
Die Zwillinge grinsten schadenfroh. Ich drückte den roten Knopf und sagte: »Na los, wo steckt er?«
»Wissen wir nicht. Ehrlich.«
»Er wollte bei Sandro pennen. Sandro ist auch so ein Computernerd wie Chip. Sie wollten zusammen …«
Louise warf Sarah einen warnenden Blick zu, woraufhin diese abrupt verstummte.
»Ich nehme an, die zwei wollten versuchen, an Leas Mails zu kommen.«
»Mails schreiben nur noch Opas«, erklärte mir Louise mitleidsvoll, aber etwas in ihrem Ton ließ mich ahnen, dass ich nicht weit daneben gelegen hatte.
»Wenn Ihr keine Mails mehr schreibt … Facebook, stimmt’s? Eure beiden sauberen Freunde wollten Leas Facebook-Account knacken.«
»Aber woher …?«, stammelte Louise verdattert.
»Ich bin bei der Kripo, Mädels, schon vergessen? Hat es geklappt?«
Betrübt schüttelten sie die Köpfe. »Sie muss ein voll krankes Passwort haben.«
»Soll ich euch Brote schmieren für die große Pause?«
Wieder Kopfschütteln.
»Habt ihr keinen Hunger mehr am Vormittag?«
Achselzucken.
Ich erinnerte mich, wie ich selbst in ihrem Alter die liebevoll zubereiteten Wurstbrote meiner Mutter im Mülleimer versenkt hatte, und verzichtete auf erzieherische Maßnahmen.
»Wir haben Chip gesagt, dass das verboten ist«, gestand Louise leise. »Aber er hört einem überhaupt nicht zu. Er ist voll durchgedreht. Will unbedingt rausfinden, was mit Lea los ist.«
»Ist Henning im Moment immer noch bei Sandro?«
Meine Töchter machten ratlose Gesichter.
»Gebt ihr mir seine Handynummer?«
Sarah zückte ihr neues Smartphone, das sie sich vom Geburtstagsgeld ihrer Oma gekauft hatte, und diktierte mir die Nummer. »Du wirst kein Glück haben. Sein Handy ist ständig aus. Wir haben’s auch schon x-mal probiert.«
»Wir machen einen Deal«, schlug ich vor. »Ich verpetze ihn nicht bei seiner Mutter, und dafür haltet ihr mich auf dem Laufenden, okay? Außerdem will ich, dass er heute Mittag wieder zu Hause ist. Macht ihr ihm das klar? Ich habe keine Lust, ihn offiziell suchen zu lassen.«
»Wir versuchen es«, erwiderte Sarah lahm. »Vielleicht ist er ja heute wieder normal.«
Die beiden erhoben sich, packten ihre Schulrucksäcke und machten sich auf den Weg hinaus
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