Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
in die kalte Dunkelheit, um einen weiteren Tag lang fürs Leben zu pauken. Manchmal kam mir der Verdacht, dass die Tage meiner Töchter härter waren als meine eigenen.
Als sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zogen, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
»Stopp«, rief ich und lief ihnen ins Treppenhaus nach. »Ihr habt gesagt, auf Leas Mailbox waren vier nicht abgehörte Nachrichten und noch ein paar Anrufe in Abwesenheit.«
Mit fragendem Blick nickten sie zu mir herauf.
»War ihr Vater dabei? Hat er sie angerufen?«
»Chip hat alle Nummern gecheckt«, erwiderte Sarah zögernd. »Der Zettel liegt neben meiner Tastatur.«
Eine Minute später wusste ich, dass Leas Vater mich belogen hatte. Er hatte in den vergangenen Tagen nicht einen Versuch unternommen, seine Tochter zu erreichen. Für diesen Umstand fand ich auch nach längerem Nachdenken nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder, es war ihm gleichgültig, was aus seiner Tochter geworden war. Oder aber – und diese Variante hielt ich für die wahrscheinlichere – er wusste, wo sie steckte.
Da ich beim Gehen am besten nachdenken konnte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg ins Büro. Für Dezember war es ungewöhnlich warm. Fast hätte man sich einbilden können, der Frühling hielte Einzug, obwohl der Winter noch gar nicht begonnen hatte. Ich hätte nichts dagegen gehabt.
Von den Türmen der Sankt-Bonifatius-Kirche schlug es behäbig acht Uhr. Der Weihnachtsbaumverkäufer, der jedes Jahr auf dem Platz gegenüber seine Zelte aufschlug, war noch nicht da. In einem Architekturbüro brannte schon Licht. Eine gähnende Wasserstoffblonde schaltete gerade ihren großen Laptop ein.
Henning hatte völlig recht, überlegte ich, während ich zügig die Bahnhofstraße entlangging, wo es schon ewig keinen Bahnhof mehr gab. Leas Handy war vermutlich die beste Möglichkeit, sie zu finden. Jugendliche wurden heutzutage krank, wenn sie länger als zwei, drei Stunden keinen Zugang zu Handy und Internet hatten. Keine SMS, keine E-Mails, kein Facebook – das war fast so schlimm, wie allein auf einer einsamen Südseeinsel vergessen zu werden. Sie zogen eine ständige Leuchtspur durch die digitale Welt. Man musste diese Leuchtspur nur finden.
Meine Töchter hatten gesagt, Lea habe in Straßburg ständig telefoniert, fiel mir ein, als ich am Römerkreis auf Grün wartete. Mit wem? Das herauszufinden, dürfte schwierig werden, selbst wenn ich die richterliche Genehmigung dafür bekam, ihre Gesprächslisten anzufordern. Die Gespräche waren in einem französischen Netz geführt worden, und das bedeutete Antrag auf grenzüberschreitende Amtshilfe, was wiederum hieß, es würde schrecklich lange dauern. Zudem brauchte ich schon für den Antrag einen begründeten Verdacht, dass ein Verbrechen vorlag. Und den hatte ich noch immer nicht. Bisher hatte ich nichts weiter als Vermutungen und Andeutungen und Befürchtungen.
Wie zur Rushhour üblich, staute sich der Verkehr. Voll besetzte Straßenbahnen summten in Richtung Stadt, fast leere in die Gegenrichtung. Es roch nach Abgasen. Ein feuchter Wind ging, und allmählich wurde mir doch kalt. Lea war noch nicht volljährig, fiel mir ein. Eine Einwilligung des Vaters würde genügen, um wenigstens herauszufinden, wen Lea angerufen hatte, bevor sie die Grenze nach Frankreich passiert hatte. Ich beschloss, ihn darum zu bitten, sobald ich im Warmen und am Schreibtisch saß. Sollte er mir die Einwilligung verweigern, würde ich mich mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen. Irgendetwas musste jetzt geschehen. Wenn ich nur gewusst hätte, was.
Lea würde ihr Handy weiter benutzen, wenn sie noch am Leben war. Vielleicht würde sie sich sogar bei Facebook einloggen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ich begann zu hoffen, dass Henning es doch noch schaffte, ihr Passwort zu knacken. Die Ampel schaltete endlich auf Grün. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter einer dicken Wolke verkrochen, und ich stellte fest, dass von Frühling noch keine Rede sein konnte. Ich steckte die Hände in die Manteltaschen und trabte los.
Sönnchen empfing mich mit leuchtenden Augen und Neuigkeiten von Leas Vater.
»Er ist unterwegs! Um zehn vor acht hat er das Haus verlassen. Ohne Gepäck.«
»Ist er mit dem Auto weggefahren?«
»Er hat gar kein Auto. Sein Führerschein …« Sie machte eine Geste, als würde sie sich ein Glas an den Mund führen. »Wie es aussieht, will er zum Bahnhof. Meine Cousine hat ihm ihren Ältesten nachgeschickt, Jan.
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