Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
wissen.«
11
Als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, um den Rest des trüben Nachmittags den langweiligen Dienstaufgaben eines Kripochefs zu widmen, schoss mir unvermittelt ein Gedanke in den Kopf. Etwas hatte sich in meinem Hinterkopf eingenistet und plötzlich das Bewusstsein erreicht.
»Zwanzig Jahre«, hatte Doro gesagt. Das konnte aber nicht stimmen. Vor zwanzig Jahren war ich noch keine dreißig gewesen. Ich hatte aber Vera, meine spätere Frau, bereits gekannt, als ich Doro beim Klassentreffen wiedersah. Und Vera hatte ich am Abend vor meinem einunddreißigsten Geburtstag kennengelernt, in diesem Punkt war ich mir sicher. Jetzt erinnerte ich mich auch, dass wir damals nicht das zehnjährige Jubiläum unseres Abiturs gefeiert hatten, sondern das zwölfte. In den beiden Jahren davor hatte es aus irgendwelchen längst vergessenen Gründen nicht geklappt.
Vera hatte in der Straßenbahn neben mir gesessen. Wir waren ins Gespräch gekommen, weil ich ein Buch las, das sie kannte, »Die Liebe in den Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez. Sie war mir sympathisch gewesen, hatte ein offenes Lachen gehabt, und in einem für mich völlig unüblichen Anfall von Größenwahn lud ich sie am Ende spontan zu meiner Geburtstagsfeier ein. Natürlich zierte sie sich. Wusste nicht so recht. Hatte eigentlich schon etwas vor. Aber zu meiner Überraschung stand sie dann am nächsten Abend vor der Tür. Todschick zurechtgemacht und mindestens so verlegen wie ich. Als Geschenk überreichte sie mir eine gebundene Ausgabe von »Hundert Jahre Einsamkeit«. Die Anspielung, die darin steckte, verstand ich erst sehr viel später.
Mein Telefon schreckte mich aus meinen Erinnerungen. Es war der Leiter der Spurensicherungsgruppe, die ich in Lassalles Haus beordert hatte.
»Wir wären dann hier so weit fertig.«
»Hat er sich anständig benommen?«
»Er hat uns einfach ignoriert. Liegt eh die meiste Zeit auf dem Sofa und hört Dire Straits, dass das Haus wackelt.«
»Und was haben Sie gefunden?«
»Im Erdgeschoss sind Blutspuren. Vor allem im Eingangsbereich. Alles gut geputzt, natürlich. Aber nicht gut genug.«
»In der Küche nicht?«
»Sie meinen, wegen der Glasscherben? Nein. In der Küche war gar nichts. In der Mülltonne liegen ein paar Scherben von dem kaputten Fenster und im Garten auch. Da ist aber nirgends Blut dran.«
Die Art, wie er verstummte, ließ mich ahnen, dass noch etwas kam. Etwas Wichtiges, wonach er gerne gefragt werden wollte. Ich tat ihm den Gefallen.
»Wie ich Sie und Ihre Leute kenne, haben Sie doch ein paar interessante Dinge gefunden«, sagte ich liebenswürdig.
Er schnaufte befriedigt. »Das Blut ist mit ziemlicher Sicherheit von der Tochter. Wir haben in der Mülltonne Sachen von ihr gefunden. Ein weißes T-Shirt mit silbernen Pailletten, ein beiges Lederjäckchen und einen rosafarbenen BH. Also wahrscheinlich alles, was sie obenrum angehabt hat. Und alles um den Hals herum durchtränkt mit Blut.«
»Am Hals?«
»Am Hals, ja. Außerdem hat noch ein Handtuch drin gelegen, das jemand wahrscheinlich als provisorischen Verband benutzt hat. Der Vater sagt, er kennt das Ding nicht. Sagen Sie mal, hat der versucht, seine Tochter umzubringen?«
»Ich weiß es nicht. Am nächsten Tag war sie jedenfalls noch am Leben.« Und hatte einen Rollkragenpulli getragen. »Ein Messer haben Sie nicht zufällig auch gefunden?«
»Das hätte ich ja wohl als Erstes erwähnt«, sagte er gekränkt. »War übrigens ein knapper Tausender, was die da in die Tonne geschmissen haben, meint die Kollegin Kiwitz. Das Jäckchen ist von Giorgio Armani, das T-Shirt von Prada und der BH von La Perla. Die Kollegin meint, der BH hat allein seine hundert Mücken gekostet.«
Ich konnte mich offenbar glücklich schätzen, dass meine Töchter bei H & M oder Zara einkauften.
»Soll das Zeug ins Labor?«
»Ist erst mal nicht nötig«, entschied ich. »Es ist ja offensichtlich, von wem das Blut stammt. Die Frage ist: Woher hatte sie die Verletzung?«
»Von den Spuren zu schließen, ist sie schon blutend heimgekommen.«
»Was sagt der Vater dazu?«
»Gar nichts. Ich hab ihm das Zeug natürlich gezeigt. Da hat er sich dann angeblich dunkel erinnert, wie er sie verbunden hat. Nach Mitternacht soll das gewesen sein. Es war wohl auch nicht ganz so schlimm, wie die Klamotten aussehen. Man überschätzt die Menge an Blut ja leicht. Vor allem bei hellen Sachen.«
Auch Doro hatte damals teure Unterwäsche getragen, fiel mir ein,
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