Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Straßenseite.
»Sie sehen nicht gut aus, Herr Gerlach«, sagte sie besorgt. »Sie haben nichts gefrühstückt, ich seh’s Ihnen an.«
Anstelle einer Antwort stieß ich einen Seufzer aus. Sie setzte sich mir gegenüber auf einen der blauen Polsterstühle für Besucher.
»Wie war’s denn gestern bei Leas Vater?«
Ich erzählte von Lassalles jämmerlichem Wutausbruch, von den Blutspuren und den teuren Kleidungsstücken in der Mülltonne. Auf einmal schmerzte meine Schulter wieder, nachdem ich seinen ungeschickten Schlag in der Zwischenzeit ganz vergessen hatte.
»Denken Sie wirklich, er hat seiner Tochter was angetan?«
»Es passt alles hinten und vorn nicht zusammen. Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Ich nahm die Brille ab und massierte meine brennenden Augen. »Hat man aus Straßburg schon was gehört?«
»Bisher nicht. Soll ich mal nachfragen?«
»Verbinden Sie mich mit de Brune. Ich will selbst mit ihm reden.«
Sie sprang auf und sagte ungewohnt streng: »Essen Sie Ihr Croissant, bevor es vertrocknet ist.«
Sekunden später hatte ich den Capitaine de Police am Telefon. Auch er klang müde. Nein, der Name der neuen dunkelhaarigen Toten war leider noch immer nicht bekannt. Und niemand vermisste bisher eine Frau, auf die ihre Beschreibung passte.
»Ihr Gesicht ist durch das Feuer völlig zerstört«, erklärte er mir. »Das hat er bei den bisherigen Opfern nie gemacht. Die hat er einfach irgendwo abgelegt, wie sie waren. Vermutlich aus dem Kofferraum geworfen. Ein Wunder, dass er nie dabei beobachtet worden ist.«
»Fingerabdrücke?«
»Die von der Frau sind unbrauchbar. Die ganze Vorderseite ist … Abdrücke vom Täter haben wir, finden sie aber in keiner Datei. Auch bei Interpol nicht.« De Brune räusperte sich und sagte mit veränderter Stimme: »Sie sollten jemanden schicken, der das Mädchen identifizieren kann. Ohne dass er das Gesicht sehen muss.«
»Ich …«, stammelte Lassalle, als er endlich begriffen hatte, was ich von ihm wollte. »Das geht nicht. Ich kann das nicht.«
Während der Fahrt in den Heidelberger Süden hatte ich ihn telefonisch vorgewarnt.
»Sie können nicht nur, Sie müssen. Ziehen Sie sich was an. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«
Leas Vater klang panisch, als er erwiderte: »Leas Großeltern … können die nicht? Ich … unmöglich!«
»Seien Sie kein Waschlappen«, herrschte ich ihn an. »Sie sind schließlich ihr Vater.«
Zwanzig Minuten später waren wir auf der Autobahn. Die Straßen waren nass, aber der Regen hatte irgendwann aufgehört, ohne dass ich es bemerkt hatte. Im Westen ballten sich jedoch schon die nächsten dunklen Wolkenberge. Unsere Fahrt verlief schweigend. Im Radio sprach ein Professor über die Frage, ob es klug wäre, Griechenland pleitegehen zu lassen. Lassalle stierte auf die Fahrbahn und schien mit seinen Gedanken in einem Paralleluniversum unterwegs zu sein, in dem es keinen Regen und keine Wolken gab. Hin und wieder seufzte er. Meine Gefühle ihm gegenüber wechselten zwischen Wut und Mitleid.
Als wir die Straßburger Stadtgrenze passierten, war es kurz vor Mittag, und inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt. Das Institut de Médecine Légale der Universität residierte in der Rue Humann in einem riesigen, phantasie-und stillosen Beton-und-Glas-Kasten aus den Sechzigerjahren. Mir war ein wenig übel, als wir nebeneinander die quietschende Glastür des Gebäudes durchquerten.
Innen schien es noch kälter zu sein als draußen. Es roch nach irgendeiner Chemikalie, was meine Übelkeit verstärkte. Schritte hallten durch lange Gänge und das lichte Treppenhaus, wir konnten jedoch niemanden sehen. Irgendwo knallte eine Tür wie ein Pistolenschuss, und wir zuckten beide zusammen.
Aus einer Tür trat ein dicker, trotz der Kälte schwitzender Mann in grauem Kittel. Er sah uns fragend an und zeigte freundlich grinsend seine Zahnlücke. Lassalle sprach zum Glück leidlich Französisch. Und natürlich mussten wir in den Keller. Aus irgendeinem Grund ist die Gerichtsmedizin immer im Keller. Vielleicht weil die Toten dort unten näher an ihrem Bestimmungsort sind.
Wir stiegen die breite, schmucklose Treppe hinab. Unten war kein Mensch zu sehen. Sönnchen hatte inzwischen den Namen meiner Ansprechpartnerin mitsamt Zimmernummer ermittelt und unser Kommen angekündigt. An eine Madame le professeur Audrey Cabrel sollte ich mich wenden. Zu meiner Verblüffung trat sie warm lächelnd aus irgendeiner Tür, als hätte sie geahnt, dass wir
Weitere Kostenlose Bücher