Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
als ich den Hörer auflegte. Verwegen geschnittene, aufreizende Unterwäsche. Als hätte sie von vornherein geplant, jemanden in ihr Bett zu locken. Ob es mich zufällig oder aus Absicht getroffen hatte, würde ich vermutlich niemals erfahren. Und ich wollte es auch gar nicht wissen.
Es war vorbei.
Eine angenehme Erinnerung, weiter nichts. Vor achtzehn Jahren und zweieinhalb Monaten war das Klassentreffen in Karlsruhe gewesen, plötzlich wusste ich es wieder. Ende September. Meine Hand wanderte ganz von allein zur Tastatur meines Laptops. Aber ich zog sie wieder zurück.
Mit einem Mal war mein Mund trocken.
Abends waren die Zwillinge unterwegs, was mir sehr gelegen kam. Irgendwer feierte Geburtstag, las ich auf einem Klebezettel, der am Spiegel pappte, und um elf würden sie zu Hause sein. Die Elf hatten sie durchgestrichen und durch »halb zwölf« ersetzt.
Ich setzte mich mit einem gut eingeschenkten Glas Rotwein ins Wohnzimmer und versuchte, mich mit dem Köln-Konzert von Keith Jarrett von schwarzem Vinyl und über Kopfhörer abzulenken. All die Jahre hatte ich meinen alten Dualplattenspieler gehütet und gepflegt, und in besonderen Momenten kam er zum Einsatz.
Später suchte ich »Hundert Jahre Einsamkeit« aus dem Regal und war mir nach drei Seiten nicht sicher, ob ich es jemals gelesen hatte.
Knapp zwei Monate nach meiner Geburtstagsfeier mit Vera war die Nacht mit Doro gewesen. Vera und ich hatten uns in der Zwischenzeit einige Male getroffen, waren jedoch noch kein Paar. Ich hatte sie nicht betrogen. Aus irgendeinem Grund war mir diese Feststellung wichtig.
Ich war es damals gewesen, der sich geziert hatte. Warum, konnte ich heute nicht mehr sagen. Vera war eine attraktive, meist gut gelaunte Frau. Und sie hatte mich deutlich spüren lassen, dass sie mich mochte und sich eine Zukunft an meiner Seite vorstellen konnte.
Ende September.
In meinem Kopf rotierten Daten und Gedanken. Schließlich legte ich das Buch zur Seite, da ich denselben Abschnitt immer wieder las. Keith Jarrett hatte es schon vor einer Weile aufgegeben, auf seinem Flügel zu zaubern, wie mir erst jetzt bewusst wurde.
Mit kalten Händen erhob ich mich, um endlich das zu tun, wovor ich seit Stunden zurückschreckte. Ich ging in mein Zimmer und schaltete meinen klapprigen PC ein. Während das Betriebssystem seine mühsamen und langwierigen Startprozeduren bewältigte, füllte ich in der Küche mein Weinglas nach. Dann setzte ich mich vor die Tastatur, packte entschlossen die Maus. Firefox – Facebook – Henning Dellnitz. Er war so freundlich, sein Geburtsdatum aller Welt mitzuteilen: Elfter Juli. Neun Monate und ein paar Tage nachdem Doro und ich … Ich rechnete noch ein Weilchen hin und her in der Hoffnung, einen Fehler gemacht zu haben. Mich in der Jahreszahl vertan zu haben. Ich zählte die Monate zwei Mal an den Fingern ab.
Es half nichts. Das Ergebnis blieb dasselbe.
Irgendwann tauchten die Zwillinge auf. Sie waren aufgekratzt, lärmten herum und wunderten sich nur am Rande über meine Wortkargheit.
Donnerstag, der achte Dezember. Seit sechs Tagen war Lea verschwunden, seit zwei Tagen Henning. Und von beiden weiterhin keine Spur. Seit gestern Mittag regnete es unaufhörlich. Von Westen näherte sich eine Kaltfront, hatte ich im Radio gehört.
Ich hatte unruhig geschlafen in der Nacht. Traumfetzen, konfuse Gedanken und Erinnerungssplitter hatten in meinem Kopf einen Hexentanz veranstaltet. Immer neue Details waren mir eingefallen. Zum Beispiel, wie ich Doro irgendwann in jener Nacht gefragt hatte, ob sie mit jemandem zusammen sei, und wie sie meine Frage erst nicht verstehen wollte. Ob sie in einer festen Beziehung lebe, hakte ich lachend nach. »Nicht wirklich«, hatte ihre merkwürdige Antwort gelautet. Wie ich sie beim Ausziehen gefragt hatte, ob sie die Pille nehme. Und sie fröhlich antwortete: »Mach dir keine Gedanken.«
Kleine, wütende Orgasmen hatte sie gehabt. Mehrere, wenn meine Erinnerung mich nicht trog. Wir hatten wohl ziemlich getobt, und irgendwann hatte sogar jemand im Nachbarzimmer gegen die Wand gebollert. Am nächsten Morgen hatten wir zusammen mit den anderen Übernachtungsgästen lange und üppig gefrühstückt.
Und dann waren wir auseinandergegangen, ohne einen Kuss oder ein Versprechen, und hatten uns nie wiedergesehen.
Bis gestern.
Es klopfte. Sönnchen brachte meinen Morgencappuccino und – das hatte sie lange nicht mehr getan – ein Croissant vom Bäcker auf der anderen
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