Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
aufgebrochen ist?«
»Ich war zu der Zeit im Fitnessstudio. Wie ich nach Hause kam, das muss gegen zehn gewesen sein, da war es still in der Wohnung. Ich dachte, er schläft sich gesund, und bin erst mal unter die Dusche. Der Junge hatte so elend ausgesehen am Morgen. So krank und fiebrig. Später war ich einkaufen. Erst als das Mittagessen fertig war, wollte ich ihn wecken, und da war sein Bett leer. Leer und kalt.«
»Lea ruft ihn um halb neun an. Eine Dreiviertelstunde später plündert er sein Konto und macht sich auf den Weg nach Straßburg, obwohl er Fieber hat. Kann es sein, dass sie ihn in der Hand hat? Dass sie ihn mit irgendwas … erpressen kann?«
»Ja, aber – womit denn nur?«
Die gelben Pillen vielleicht? »Wenn ich das wüsste«, stieß ich entnervt hervor. »Dann wäre mir sehr viel wohler, glaub mir.«
Ich legte den Hörer sehr unsanft auf. Diese Geschichte wurde mit jeder Stunde verworrener. Mit jedem Informationsschnipsel, der meinen Schreibtisch erreichte, verstärkte sich mein Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Dass Lea sich keineswegs nur ein paar schulfreie Tage gönnte.
Das Absurde, das Nervtötende an meiner Situation war, dass ein Fall Lea Lassalle nach wie vor nicht existierte. Eine fast volljährige junge Frau war verschwunden, unter zugegeben merkwürdigen Umständen. Am Abend zuvor war sie blutend nach Hause gekommen. Außerdem hatte sie ihren Vater bestohlen und die Liebe eines Schulfreundes schamlos ausgenutzt. Seit Tagen blieb sie unentschuldigt dem Unterricht fern. Aber all das rechtfertigte keinen Polizeieinsatz.
13
»Schönes Kleid«, sagte ich zu Sönnchen, als sie hereinschaute, um mir einen angenehmen Feierabend zu wünschen. »Neu?«
Sie lächelte kokett und nickte.
»Sie sind überhaupt so schick in letzter Zeit. Und beim Frisör sind Sie auch gewesen! Stehen Ihnen übrigens gut, die Strähnchen.«
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und errötete zart.
»Zehn Jahre jünger sehen Sie aus. Ganz im Ernst.«
»Jetzt übertreiben Sie aber«, kicherte sie verlegen.
Endlich begriff ich. »Sönnchen, Sie werden doch nicht etwa …?«
»Doch.« Meine treue Sekretärin schlug die Augen nieder wie ein ertappter Teenager.
»Darf man erfahren, wer der Glückspilz ist?«
»Wir sind im selben Tennisverein und haben schon x-mal miteinander gespielt. Er ist Immobilienmakler. Vor drei Jahren ist dann seine Frau gestorben. Und wie es so geht – im Oktober hat der Verein sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert, und es hat Sekt gegeben und – na ja, Sie wissen schon …«
»Dass es Ihnen guttut, sieht man.«
Inzwischen glich ihre Gesichtsfarbe der einer vollreifen Tomate, und sie sagte den Satz, den Menschen viel zu selten sagen: »Ich bin glücklich, Herr Gerlach. Richtig glücklich.«
Der Kehler Kollege rief erst um kurz vor sechs wieder an. Die junge Französin, eine Schwarze, wie ich nun erst erfuhr, hatte schließlich gestanden, Hennings Rucksack im Gestrüpp gefunden und durchwühlt zu haben. Sie habe aber nur die Jeans und den Pulli an sich genommen, und der Rucksack habe schon durchwühlt gewirkt, als sie ihn fand. Den Besitzer selbst hatte sie angeblich nicht gesehen. Das klang glaubhaft, da sie ein Zugticket der SNCF von Lyon nach Kehl vorweisen konnte, das belegte, dass sie erst am Dienstagabend in Deutschland angekommen war, sechs Stunden nachdem Henning seine Vespa abgestellt hatte. Zu Ziel und Zweck ihrer Reise wollte sie nichts sagen. Eigenes Gepäck schien sie nicht zu besitzen. Da sie jedoch einen gültigen Pass mit sich führte, blieb den Kehlern am Ende nichts anderes übrig, als die Daten der jungen Frau in den Computer einzugeben und sie nach einigen mahnenden Worten ziehen zu lassen.
Als ich es meiner frischverliebten Sekretärin gleichtun und ebenfalls meine Schreibtischlampe ausschalten wollte, klopfte es an der Tür, und Klara Vangelis trat ein. Sie brachte Neuigkeiten und weitere Komplikationen.
»Ich habe mich um diesen israelischen Doktoranden gekümmert«, begann sie, nachdem sie sich gesetzt und den heute taubenblauen Rock über die Knie gezupft hatte. »Das Institut in Darmstadt weiß nicht mehr als wir. Moshe Schochat ist vor sechs Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden, und niemand hat je wieder von ihm gehört. Der Professor – inzwischen ist er emeritiert – hat damals einen Brief an die Universität in Haifa geschickt, aber nicht einmal eine Antwort bekommen.«
Ich lehnte mich zurück
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