Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Bewegung eliminierte Lorenzo meinen zweiten Springer und brachte zugleich meine Dame in schwere Bedrängnis. »Haben die Franzosen nicht an jeder Hausecke Videokameras?«
»Haben sie. Aber ich brauche gar nicht zu versuchen, an die Aufzeichnungen heranzukommen, solange ich kein offizielles Amtshilfeersuchen auf den Tisch legen kann.«
Lorenzo schmunzelte in sich hinein. »Zufällig habe ich einen guten Freund in der Straßburger Stadtverwaltung.« Fast liebevoll kickte seine Dame meinen letzten Turm vom Platz. »Dario Rotella, Doktor der Rechte und ein äußerst hilfsbereiter Mensch. Soll ich ihn mal anrufen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich vorsichtig. »Ich werde es mir überlegen.«
Wer konnte wissen, zu welchem Mafiaclan dieser Dr. Rotella wieder gehörte.
Lorenzo sah mir mitleidig in die Augen und sagte zum letzten Mal an diesem Abend: »Schach.«
Auf dieses Desaster hin enthaupteten wir feierlich die zweite Flasche. Der Wein war wirklich ausgezeichnet, und seit Lorenzo ihn gelobt hatte, schmeckte er mir noch besser als zuvor.
»Samantha ist nämlich farbenblind«, sagte Sarah, als wir am Freitagmorgen beim Frühstück saßen und – wie seit Neuestem üblich – unsere private kleine Fallbesprechung abhielten.
Ich hatte meine Töchter gefragt, was sie über den geheimnisvollen Mercedesfahrer wussten, mit dem Lea angeblich ein Verhältnis hatte. Das Mädchen, von dem die Behauptung stammte, hieß Samantha. Louise und Sarah hatten sie in der Zwischenzeit aus eigenem Antrieb ausgefragt. Aber je länger sie Samantha gelöchert hatten, desto unsicherer war sie geworden. Selbst die Farbe des Mercedes konnte sie nicht nennen, da sie nun eben farbenblind war.
»Die hat sowieso bloß noch Jungs im Kopf.« Louise begann, eine Scheibe kalorienarmes Knäckebrot dick mit fettem Streichkäse zu beschichten. »Denkt nur noch ans Knutschen und alles. Ständig labert sie einen voll, wer grad mit wem zusammen ist oder wen sie mit wem gesehen hat.«
»An der Tanke an der Speyerer Straße soll es gewesen sein«, wusste Sarah. »Sie hat im Auto von ihrem Vater gesessen, also Samantha. Und da hat sie gesehen, wie Lea da rumgehangen hat, mit ’ner Cola in der Hand. Es ist voll warm gewesen an dem Tag, sagt Samantha. Und dann ist der Mercedes gekommen, Lea hat die fast volle Cola in die Tonne geschmissen und ist eingestiegen und dem Typ um den Hals gefallen.«
»Wann soll das gewesen sein? Kann sie das wenigstens sagen?«
An meinen Fingern klebte noch ein wenig Harz vom Vorabend. Zu dritt waren wir zu dem Platz vor der Sankt-Bonifatius-Kirche gepilgert, hatten dort unseren diesjährigen Weihnachtsbaum ausgewählt und nach Hause geschleppt. Einen großen Baum, da wir eine Altbauwohnung mit hohen Decken bewohnten.
»Das weiß sie sogar ganz genau. Am achten Oktober war das, an einem Samstag. Sie weiß es deshalb, weil sie zusammen mit ihrem Papa auf dem Weg nach Baden-Baden war. Ihr Opa wohnt da. Der soll schweinereich sein.«
»Früher hat er eine Supermarktkette gehabt«, fiel Louise eifrig ein. »Die hat er verkauft, und jetzt ist er Multimillionär …«
»Samantha glaubt, er ist sogar Milliardär …«
»… und spielt nur noch Golf und hängt im Kasino ab. Vier Autos hat ihr Opa, behauptet Samantha, und eine ganz junge Freundin. Eine Russin.«
»Und zu dem Mercedes kann Samantha nichts weiter sagen?«
»Dunkel ist er gewesen«, sagte Louise. »Und groß. Kein Cabrio oder so.«
In die Überwachungsvideos der Tankstelle brauchte ich keine Hoffnungen zu setzen. Die wurden nach wenigen Tagen gelöscht.
»Samantha hat an dem Tag von ihrem Opa dreitausend Euro gekriegt«, verkündete Sarah empört. »Für ihren Führerschein!«
»Sie macht nämlich Führerschein mit siebzehn.« Louise legte langsam ihr Knäckebrot auf den Teller und sah mich an mit diesem warmen Blick, den ich nur zu gut kannte. »Dürfen wir das auch, Paps?«
Ach herrje. Zweimal Führerschein, zweimal mindestens zweitausend Euro. Und als kostenlose Dreingabe die doppelte Chance, sich seinen Wagen von einer Fahranfängerin zu Schrott fahren zu lassen. Wie gut, dass ich ein altes und praktisch wertloses Auto besaß.
»Mal sehen«, erwiderte ich vorsichtig. »Erst mal gucken wir uns eure Noten am Ende des Schuljahrs an.«
»Das ist voll fies«, fand Sarah. »Was hat denn der Führerschein mit den Noten zu tun?«
»Wieso haben wir eigentlich keinen Opa, der Millionär ist?«, fragte Louise mit Blick zur Decke.
»Weil euer Opa beim Finanzamt
Weitere Kostenlose Bücher