Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
natürlich rum. Ich …«
Lassalle verstummte und schwieg lange. Als ich dachte, er sei vor Erschöpfung eingeschlafen, fuhr er fort: »Es hat Tage gegeben, da hätte ich mich am liebsten umgebracht. Im Labor hat genug Zeug herumgestanden, das dafür getaugt hätte. Eine kurze Überwindung. Vielleicht ein übler Geruch, ein bitterer Geschmack. Ein kleiner Schluck – und vorbei.«
Wieder ging es ein Stückchen voran. Der Regen war von einer Sekunde auf die andere schwächer geworden. Die Autobahn sah aus wie ein aufgestauter Fluss. Auf den Gegenfahrbahnen standen die Autos nun ebenfalls auf drei Spuren. Das Radio spielte Pink Floyd, »Atom Heart Mother«.
Lassalle hatte sich in seiner Vergangenheit verloren. In Selbstvorwürfen. In Ratlosigkeit und Trauer über ein verpfuschtes Leben.
»Ich habe es dann vorgezogen, mich in kleinen Etappen zu vergiften.«
»Alkohol?«
»Am Ende haben wir uns getrennt. Es war die einzige Lösung, denn allmählich ist auch Lea durchgedreht. Wie soll ein Kind normal werden, unter solchen Umständen? Jasmin hat das Sorgerecht bekommen, und zu dem Zeitpunkt war mir das längst scheißegal. Hauptsache, ich hatte endlich meine Ruhe. Jasmin hatte es geschafft, Lea ganz auf ihre Seite zu ziehen. Vermutlich hat Lea am Ende selbst geglaubt, dass ich sie missbraucht hätte. Dass ich ein Widerling bin, ein Schwein, ein … Nach und nach hat Jasmin ihr dann die Verantwortung für ihr Leben übertragen. Damals war sie zwölf. Zwölf! Jasmin hat sich geweigert, alt zu werden, und hat geglaubt, wenn sie einfach so tut, als wäre sie immer noch sechzehn, dann wird sie unsterblich, irgend so was. Es war mir egal. Mir war längst alles egal. Jasmin hatte so eine irrsinnige Angst vor dem Sterben. Sie hat sich an Lea geklammert. Als wenn … als wollte sie ihre Jugend einsaugen. Manchmal hat sie sich tagelang nicht aus dem Haus getraut. Dann ist sie wieder mit Lea zusammen durch die Discos gezogen und hat halbe Nächte durchgetanzt. Da war die Kleine vierzehn oder fünfzehn.«
»Warum haben Sie sie nicht zum Therapeuten geschickt?«
Lassalle lachte rau. »Was denken Sie, wie oft Jasmin bei irgendwelchen Quacksalbern war? Was denken Sie, wie viel mich das alles gekostet hat? Alles haben wir versucht. Heilsteine, Bachblüten, Buddhismus, Zen, ich will’s nicht wissen und kann’s nicht mehr hören. Und Lea immer mittendrin. Wie soll ein Mensch dabei normal und erwachsen werden? Scheiße, sie musste ja schon mit zwölf erwachsen sein – wenn ihre Mutter mal wieder nachts weinend an ihrem Bett saß und sich über ihren schrecklichen Mann beklagt hat.«
Im Radio erzählte eine gescheiterte Lebensberaterin von ihren persönlichen Problemen und ihrer ständigen Angst vor dem Weltuntergang. Wenn ich richtig verstand, hatte sie ein Buch über dieses Thema geschrieben, das zur allgemeinen Verblüffung zum Bestseller zu werden drohte. Die Bremslichter vor mir erloschen. Es ging weiter. Lassalle öffnete die Augen.
»Es regnet gar nicht mehr«, stellte er fest.
»Seit einer halben Stunde ungefähr.«
»Glauben Sie mir, es war die Hölle«, sagte er so nachdenklich, als wäre ihm diese Tatsache eben erst bewusst geworden. »Es war wirklich die Scheißhölle. Nicht für mich. Sondern für Lea. Ich komme klar. Irgendwie geht es immer weiter. Und wenn ich mal nicht klarkomme, dann besaufe ich mich. Im Gegensatz zu Jasmin habe ich nicht die geringste Angst vor dem Tod. Man schläft ein, und wenn man nicht stirbt, dann wacht man wieder auf. Beim Einschlafen fühlt sich das eine wie das andere an. Wieso sollte man davor Angst haben? Schläft man nicht jeden Tag ein? Man kommt doch nicht irgendwann zu sich und denkt: Oh, Scheiße, jetzt bist du tot.«
Jetzt fuhren wir wieder. Nicht schnell, aber wir kamen voran. Die Vollsperrung war aufgehoben, berichtete das Radio. Der Stau löste sich zügig auf. Einen Toten hatte es gegeben und vier mehr oder weniger schwer Verletzte. Und irgendwo gab es jetzt Menschen, denen ein betretener Polizist eine schlechte Nachricht überbringen musste. Eine Nachricht, die Leben in Stücke riss. Mehrere Leben, falls es Kinder gab.
Eine knappe halbe Stunde später erreichten wir die Ausfahrt Heidelberg-Schwetzingen.
»Das war der Grund«, sagte Lassalle unvermittelt, nachdem er wieder eine halbe Ewigkeit geschwiegen und gegrübelt hatte. »Wenn man so will, dann ist Jasmin daran gestorben, dass sie nicht alt werden wollte. Sie hat Lea zu dieser Love-Parade in Duisburg geschleift.
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