Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
genossen, erzählte er aufgeräumt. Eine Behandlung, die unter Medizinern umstritten war und von keiner Krankenkasse der Welt anerkannt wurde, in seinem Fall jedoch erfolgreich war. Er hatte kaum noch Schmerzen, und man durfte hoffen, dass dieser segensreiche Zustand einige Jahre anhielt. Überdies schien mein Freund einige Kilo abgenommen zu haben, ein Umstand, über den er jedoch nicht sprechen wollte.
Das Gemüse schmeckte himmlisch, und selbst das Weißbrot schien nicht von einem irdischen Bäcker zu stammen. Sämtliche Zutaten kamen von einem Importeur in Mannheim, berichtete Lorenzo verträumt lächelnd. Einem Importeur, der die besseren italienischen Ristorantes Nordbadens belieferte und Privatkunden normalerweise nicht über seine Schwelle ließ. Lorenzo war in dieser Hinsicht mindestens Halbitaliener, hatte überall seine Beziehungen und mehr Freunde, als er sich Namen merken konnte.
Beim Essen erzählte er mir von seinem zweimonatigen Aufenthalt in den USA und von einer Frau namens Monica, die er in der Klinik kennen und ein wenig lieben gelernt hatte.
»Alter schützt vor Liebe nicht«, zitierte ich wieder einmal Coco Chanel, »aber Liebe vor dem Alter.«
Lorenzo war zwischen fünfundsechzig und siebzig Jahre alt. Exakte Aussagen zu diesem Punkt verweigerte er ebenso wie zu seinem Geburtstag. Er war der Ansicht, Geburtstage seien traurige Anlässe, die man in stiller Nachdenklichkeit und Einsamkeit verbringen sollte. Schließlich trage man ja ein weiteres Lebensjahr zu Grabe. Geschenke lehnte er ab, sofern man sie nicht essen oder trinken konnte.
»Was ich brauche, das habe ich«, lautete hierzu sein unumstößlicher Standpunkt. »Und was ich nicht habe, das brauche ich auch nicht.«
Als Hauptgang hatte er ein Gericht aus Kalbfleischwürfeln mit Salbeiblättern und grünen Oliven kreiert. Das Ganze schwamm in einem dünnen Weißweinsößchen, das mir vor Verzückung fast die Tränen in die Augen trieb. Dazu servierte er schlichte Kartoffelecken aus dem Backofen.
»Dabei kommt es weder auf die Art der Zubereitung noch auf Gewürze an, sondern nur auf die Qualität der Kartoffeln«, lernte ich an diesem Abend.
Als der Tisch abgeräumt war, bauten wir sein altes Schachbrett mit den handgeschnitzten Figuren auf, und Lorenzo bewies mir wieder einmal, dass ich auf dem Feld der dunklen und hellen Quadrate ein Stümper war. Wir plauderten über die neuesten politischen Entwicklungen. Über die immer tiefer in die Knie gehende Weltwirtschaft, die drohende Rezession in Italien, das nicht enden wollende Eurodrama. Immerhin schaffte ich im dritten Spiel mit Glück ein wenig ehrenvolles Remis.
»Du bist heute so nachdenklich, mein Freund«, sagte Lorenzo, als wir die Figuren zum vierten Mal für die Schlacht formierten. »Was bedrückt dich?«
Ich erzählte ihm von Lea und Henning. Von Leas unglücklichem Vater, der sich zielstrebig selbst zerstörte, von Doro, mit der ich vor Ewigkeiten einmal das Bett geteilt hatte. Meine Vermutung, Henning könnte mein Sohn sein, behielt ich für mich, aber Lorenzo war viel zu intelligent, um nicht selbst darauf zu kommen. Und schließlich erzählte ich auch von dem irren Frauenmörder, der um Straßburg herum sein Unwesen trieb. »Le Monstre«, wie die elsässischen Gazetten ihn inzwischen nannten. Alle Indizien sprachen dafür, dass er seine Opfer immer einige Tage irgendwo versteckt hielt, dort quälte und misshandelte, bevor er sie tötete.
»Und nun fürchtest du, Lea ist sein nächstes Opfer.«
»Zum Glück nicht mehr. Im Moment sieht es eher so aus, als hätte sie ihr Verschwinden geplant. Auch wenn sie kein Gepäck dabeihatte. Ich nehme an, es musste schnell gehen. Irgendwas muss am Abend vorher passiert sein, das sie in Angst und Schrecken versetzt hat.«
Auch Vangelis’ Agententheorie schien mir ein wenig weit hergeholt, nachdem ich ein wenig darüber nachgedacht hatte. Lassalle mochte Dinge wissen, die viele Militärs dieser Welt vor Jahren spannend gefunden hätten. Aber Wissenschaft und Technik waren nicht stehen geblieben, der Fortschritt hatte nicht haltgemacht, nachdem er seinen Job verloren hatte. Was damals als sensationelle Neuerung galt, war heute vermutlich ein alter Hut.
»Lea hat in Straßburg ständig telefoniert«, sagte ich und schob einen Bauern voran, ohne recht zu wissen, zu welchem Zweck. »Und ich wüsste zu gerne, mit wem.«
»Vielleicht hat sie jemanden gesucht, der ihr beim Untertauchen behilflich war?« Mit einer beiläufigen
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