Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Lächeln.
Die Schöne gab sich gelassen, verstand aber natürlich sofort den Hintergrund meiner Frage. »Ich trinke irgendwo einen Tee, solange du deinen Jagdtrieb befriedigst.«
Ich fand einen Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs, wir stiegen aus und wunderten uns über den kalten Wind. Theresa verabschiedete sich mit einem eiligen Kuss und strebte auf das Bahnhofsgebäude zu, wo sie ein heimelig beleuchtetes Bistro entdeckt hatte. Ich blieb in der Kälte zurück und wusste plötzlich nicht mehr, was ich hier eigentlich suchte. Der große und kahle Bahnhofsvorplatz war so gut wie menschenleer. Der Wind blies von Westen her, und von Minute zu Minute wurde es dunkler. Einige fröstelnde Schüler hockten Schulter an Schulter auf einer futuristischen Bank und starrten Löcher in ihre Handys. Vermutlich warteten sie auf den Bus.
Ich schlug den Mantelkragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und machte mich auf den Weg quer über den Platz in Richtung Westen. Auf den Weg, den am Dienstag vermutlich auch Henning gegangen war. Hatte er hier Lea treffen wollen, die sich aus irgendeinem Grund ausgerechnet in Kehl versteckt hielt? Oder hatte sie ihn zu einem bestimmten Zweck hierherbestellt, auf diese übersichtliche Betonwüste? Es gab eine Nahverkehrsverbindung von Straßburg nach Kehl, wusste ich, die halbstündlich verkehrte. Hatte Henning einfach nur den Großstadtverkehr gefürchtet und die letzten Kilometer lieber mit dem Zug fahren wollen?
Ich erreichte den breiten Gehweg, der neben der vierspurigen Bundesstraße in Richtung Rhein führte. Jenseits der Straße trotzte ein etwa zwanzigstöckiges, gesichtsloses Hochhaus Wind und Kälte. Die stark befahrene Straße stieg zur Europabrücke hin in einem weiten Bogen an. Und der bösartige Wind schien mit jedem Schritt stärker und kälter zu werden. Bald hörte ich neben dem Rauschen des Verkehrs das Gurgeln des Stroms, der zurzeit Hochwasser führte.
Eine Weile stand ich auf der Brücke und starrte ins tief unter mir schäumende Wasser. Mein Atem bildete Wölkchen vor dem Mund. Ich blies in meine Hände, um sie zu wärmen. Schließlich machte ich kehrt, bog nach links ab in Richtung Eisenbahnbrücke, die etwa zweihundert Meter nördlich den Rhein überquerte und über die gerade mit Bummelzuggeschwindigkeit der TGV nach Paris rumpelte. Dort, wusste ich, am Bahndamm kurz vor der Brücke, hatten die Kollegen Hennings Rucksack aus dem Gestrüpp gezogen.
Ich überquerte einen großen, unbefestigten Parkplatz voller trüber Pfützen, erreichte die schmale Straße, die unter den Gleisen hindurch zum Hafen führte, und stand schließlich an der Stelle, wo der Rucksack gelegen haben musste. Jetzt lag hier nur noch Müll. Eine alte französische Zeitung entdeckte ich, Zigarettenkippen mit und ohne Filter, Getränkedosen, zwei leere Weinflaschen. Vin de pays, anderthalb Liter zu eins neunundneunzig. Die orangefarbenen Preisaufkleber waren auch ohne Bücken lesbar. Daneben wassergefüllte Reifenspuren eines Wagens, der im aufgeweichten Boden tief eingesunken war.
Inzwischen war mir nur noch kalt. Hatte ich gehofft, hier würden Augenzeugen herumstehen, die nur darauf warteten, mir ihre Geschichte zu erzählen? Hier würden nach vier Tagen noch Dinge am Boden liegen, die die Kollegen übersehen hatten? Irgendetwas, das – einem idiotischen Drehbuch folgend – allen anderen entgangen war und nun mir einsamem Helden den entscheidenden Hinweis lieferte?
Aber es war ein Trieb. Ich konnte nicht anders. So war es immer schon gewesen: Ich wollte die Orte sehen, wo es geschehen war. Die Dinge, die das Opfer eines Verbrechens zuletzt gesehen hatte. Die Luft riechen, die es bei seinem letzten Atemzug eingeatmet hatte. Wobei das Wort »Opfer« in diesem Zusammenhang ganz und gar fehl am Platz war, denn bisher ging ich davon aus, dass Henning entweder mit Lea zusammen untergetaucht war oder sich aus Liebeskummer das Leben genommen hatte. Heute nannte man so etwas operative Fallanalyse. Gute Kriminalisten hatten es schon vor tausend Jahren so gemacht. Man muss sich in die Welt des Opfers versetzen, um den Täter zu finden.
Eines wurde mir beim Händereiben immerhin klar: Wer in tiefster Verzweiflung auf eine Brücke stolpert, um sich hinunterzustürzen, der macht vorher keinen Umweg von mehreren Hundert Metern, um sein Gepäck loszuwerden. Dem ist in diesen Minuten nichts unwichtiger als sein Gepäck.
Wenige Schritte rechts von mir verlief die Straße durch eine schmale, dunkle
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