Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
aufdringliches Rasierwasser, anzügliche Blicke für die Kassiererin. Hier durften es zur Tankrechnung noch zwei Päckchen Marlboro sein. Es dauerte quälend lange, bis die Schlange abgearbeitet war, da immer neue Kundschaft hereinströmte. Schließlich fand ich, ich hätte genug gewartet, und trat wieder vor.
»Zeigen Sie das Foto halt noch mal her«, sagte die junge Frau, nun schon ein wenig gnädiger.
Ich reichte es ihr über den Tresen.
»Kenn ich, ja«, sagte sie nach einem langen Blick. »Die hat zwei oder drei Mal ’ne Cola bei mir gekauft.«
»Wie gesagt, sie soll sich hier im Oktober mit einem Mann getroffen haben, direkt vor Ihrem Fenster. Er ist im Mercedes vorgefahren.«
Mit klug blitzenden, rabenschwarzen Augen sah sie mich an. »Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Autos da draußen jeden Tag halten und wieder wegfahren?«
»Was ist mit Ihren Überwachungskameras?«
Wie ich vermutet hatte, wurden die Videos nach zwei Tagen automatisch gelöscht.
»Arbeiten Sie allein hier?«
»Die meiste Zeit ja. Sie sehen ja, ich hab wirklich nicht groß Zeit, spazieren zu gucken. Solange es draußen keine Schlägerei gibt und jeder brav seinen Sprit bezahlt, ist es mir egal, was abgeht.«
»Aber Sie werden ja nicht vierundzwanzig Stunden an der Kasse stehen.«
»Die Nachtschicht macht Ferdi. Die mach ich nicht mehr seit … Es hat da mal ’ne eklige Sache gegeben mit zwei besoffenen Rumänen.«
»Und an den Wochenenden? Als das Mädchen hier gesehen wurde, war Samstag.«
»Meistens mach ich auch die Wochenendschichten. Ich brauch das Geld. Ich will nächstes Jahr studieren, und mein Vater will nichts bezahlen.«
»Darf ich Ihnen das Foto für alle Fälle hierlassen?«
Sie zuckte die runden Schultern. »Wenn’s Ihnen Freude macht …«
Ich war schon an der automatischen Tür, als sie mich zurückrief.
»Wieso eigentlich?«, fragte sie mit plötzlich neugierigem Blick. »Was ist mit dem Mädel? Und was ist mit diesem Mercedes-Typen?«
»Sie ist verschwunden.«
»Und jetzt meinen Sie, der … der Typ hat sie …?«
Ich hob die Achseln.
»Wie alt ist sie?«
»Siebzehn.«
Sie schlug die dunklen Augen nieder. »Blödes Alter«, sagte sie mit schiefem Mund. »Man meint, man weiß schon alles. Und man darf nichts.«
»Frau Dellnitz hat schon wieder angerufen«, eröffnete mir Sönnchen, als ich reichlich verspätet mein Vorzimmer betrat. »Die arme Frau. Der geht’s gar nicht gut.«
Ich hängte meinen Mantel an den Haken und sah sie erwartungsvoll an.
»Hab ihr gesagt, Sie sind beruflich unterwegs.«
»Das war ich auch.«
Sönnchen lächelte, als wüsste sie es besser.
Kaum hatte ich am Schreibtisch Platz genommen, da meldete sich das Telefon.
»Ich werde noch verrückt«, schluchzte Doro. »Es macht mich wahnsinnig, hier zu sitzen und … Hast du denn nicht irgendwas Positives? Etwas, das mir ein wenig Hoffnung geben könnte? Ich … ich halte das nicht mehr aus, Alex. Diese Unsicherheit. Dieses … Warten und Bangen und Hoffen, Hoffen, Hoffen.«
Am Morgen hatte es offiziell in der Zeitung gestanden: Siebzehnjähriger Schüler vermisst. Darunter ein Foto von Henning, auf dem er nachdenklich wirkte und erwachsener, als er war.
»Doro, bitte, ich weiß, wie schwer das für dich ist. Glaub mir, wir tun, was wir können.«
»Aber deine Leute können doch nicht nur am Schreibtisch sitzen und warten, bis vielleicht irgendwann das Telefon klingelt!«
In dieser Sekunde wurde etwas, was bisher nur eine vage Idee gewesen war, zum Plan.
»Weißt du was?«, hörte ich mich sagen. »Ich werde selbst nach Kehl fahren und mich ein bisschen umsehen.«
»Du … du bist ein Schatz, Alex.«
Für zwei Sekunden schwiegen wir beide, und ich war drauf und dran, ihr die Frage zu stellen, die mich seit Mittwochabend nicht mehr losließ. Aber am Ende fand ich doch nicht den Mut dazu. Wortlos legten wir auf.
Ich schrieb Theresa eine kurze SMS: »Hast du am Wochenende schon was vor? ILA«
»ILA« hieß: In Liebe – Alexander.
Die Antwort kam postwendend: »Nein. ILT«
»Was hältst du von Weihnachtsmarkt in Straßburg?«
»Freu mich!!!!! Küsse!!! ILT. Soll ich Hotel kummern?«
SMS waren definitiv die Sargnägel der abendländischen Sprachkultur.
Da ich das Handy schon in der Hand hielt, wählte ich Lassalles Nummer. Zu meiner Überraschung nahm er fast sofort ab und klang sogar nüchtern. Leas Laptop könne ich gerne haben, erklärte er mürrisch, wenn es der Tochterfindung diene.
Ich schickte eine
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