Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
die Augen, als würde Nachdenken wehtun. »Mir ist nichts aufgefallen. Nö, anfangs ist er eigentlich noch ganz relaxed gewesen.«
Sie riss die Augen wieder auf, sah erst mich, dann Theresa empört an.
»Außerdem, das fällt mir erst jetzt wieder ein, das war doch der Spinner, der seinen Helm vergessen hat! Den hat er auf den zweiten Stuhl gelegt und später einfach liegen lassen. Wie ich zum zweiten Mal raus bin, um ihm das Ding hinterherzutragen, da war er schon nirgends mehr zu sehen. Wollen Sie den haben, den Helm? Dahinten liegt er noch.«
Das konnte nicht schaden, dachte ich und bejahte.
»Es war Leas Laptop«, sagte ich zu Theresa, als die Kellnerin wieder hinter ihrem Tresen stand und leise vor sich hin stöhnend Gläser abtrocknete. »Er muss etwas darin entdeckt haben, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«
»Und wo ist dieser Laptop jetzt?«
Das war eine gute Frage. Vielleicht im Moment sogar die entscheidende Frage. Ich winkte der Kellnerin und bat um die Rechnung, was Anlass zu einem erneuten Seufzer gab.
Angesichts meiner jüngsten Erfahrungen mit dem Straßburger Stadtverkehr hatten wir den Peugeot in Kehl stehen lassen und für die letzten Kilometer den Zug genommen. Vom Straßburger Hauptbahnhof zum Hotel gönnten wir uns ein Taxi. Unser Zimmer sei so teuer, meinte Theresa, dass der Preis für diesen bescheidenen Luxus nicht weiter ins Gewicht falle. Das »Cardinal de Rohan« lag mitten in der Stadt, an einem schmalen und touristisch gut erschlossenen Sträßchen zwischen Münster und Ill. Rechts und links reihten sich Andenkengeschäfte, angeblich sagenhaft alte und auf jeden Fall urgemütliche Weinstuben sowie Restaurants mit viersprachigen Speisekarten. Das geschmackvolle Entree des Hotels entschädigte uns für den Rummel vor der Tür, und die Einrichtung unseres Zimmers im Stil von Louise XV brachte Theresa ins Schwärmen. Das Personal zeigte die exakt richtige Mischung aus Zuvorkommenheit und Zurückhaltung, und selbstverständlich bestellten wir zwei Gläser Champagner aufs Chambre double supérieure – dieses Wochenende versprach ohnehin sündhaft teuer zu werden.
Als wir mit dem Champagner allein waren, unterzogen wir das vornehm quiekende, jedoch robust gebaute Bett aus dunkel gebeiztem Eichenholz einer gründlichen Erprobung. Später duschten wir heiß und lange, veranstalteten eine kleine Wasserschlacht und beschlossen schließlich, wieder vernünftig zu werden und ein wenig bummeln zu gehen.
Wir waren glücklich und hungrig, und ich hatte Lea und Henning fast vergessen. Nur ganz hinten in meinem Kopf hörte eine leise Stimme nicht auf zu quengeln, ich sei nicht nur zum Vergnügen hier. Aber selbst die pflichtbewusstesten Kripochefs haben hin und wieder dienstfrei, und auch ein Polizistenleben besteht nicht nur aus Pflicht und Arbeit. Schon gar nicht, wenn der Polizist mit einer Frau wie Theresa im Arm eine der schönsten Städte Mitteleuropas erobert. Der Stimme, die in noch tieferen Regionen meines Hinterkopfs hartnäckig behauptete, ich sei hier vielleicht auf der Suche nach meinem eigenen Sohn, erteilte ich kurzerhand Redeverbot.
Das nur wenige Schritte vom Hotel entfernte Münster erschlug mich jedes Mal aufs Neue mit seiner Pracht und Würde. Wieder fragte ich mich, ob es trotz oder gerade wegen des fehlenden Südturms so überwältigend wirkte. Theresa war nicht zu einer Turmbesteigung zu überreden und brachte das kaum zu widerlegende Argument vor, es sei ja schließlich schon dunkel. Eine Innenbesichtigung, immerhin, wurde gnädig akzeptiert. Das Gebäude war nur mit einem Wort zu beschreiben: großartig. Nein, es ließ sich überhaupt nicht beschreiben. Worte taugten hier nicht. Selbst Theresas Lästermaul verstummte vorübergehend in schlecht verhohlener Ergriffenheit.
Als wir das Münster wieder verließen, dufteten uns geröstete Maronen entgegen, und mein Magen begann zu rumoren. Wir drehten eine Anstandsrunde über den von hohen Fachwerkhäusern gesäumten Weihnachtsmarkt, besichtigten teure und garantiert handgetöpferte Elsässer Keramik und billigen chinesischen Christbaumschmuck und entschieden uns – wo man schon mal in Frankreich war – für Crêpes. Theresa wählte die Vollversion mit Schinken, Käse und Ei, mich gelüstete nach der süßen Variante mit Alkohol. Dazu tranken wir gut gekühlten Edelzwicker aus den im Elsass üblichen hohen Gläschen mit grünem Stiel.
Das Gedränge und Geschiebe war dasselbe wie auf deutschen
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