Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Weihnachtsmärkten, aber wenn man in der richtigen Begleitung war und die Entschuldigungen auf Französisch kamen, machte es sogar Spaß, von trampeligen Touristen in wattierten Mänteln die unförmigen Rucksäcke in die Seite gerammt zu bekommen. Nicht weit von uns drehte sich ein altes Kinderkarussell mit Elefanten, Löwen und anderem seltenem Getier. Irgendwo spielte jemand deutsche Weihnachtslieder auf einer romantisch verstimmten Ziehharmonika.
»Nett hier«, meinte Theresa eifrig kauend.
Nach unserem Imbiss schlug sie vor, auf diese Anstrengung hin das Hotel aufzusuchen und sich ein wenig hinzulegen. Aber ich zog sie in die entgegengesetzte Richtung. »Jetzt sehen wir uns die Stadt an.«
Nicht nur der Kälte wegen eng umschlungen, bummelten wir durch enge Gässchen und über weitläufige Plätze, bewunderten hohe Fachwerkhäuser und schmale Fachwerkhäuser, krumme Gassen und schnurgerade Boulevards. Überall funkelte, schimmerte und roch es vorweihnachtlich. An einer Ecke spielten Indios auf Panflöten. Theresa machte sich Gedanken über ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Mann, vergaß diesen Aspekt jedoch bald wieder. Als uns kalt wurde, flüchteten wir in die Galeries Lafayette. Dort entdeckte Theresa im ersten Obergeschoss eine riesige Dessousabteilung, kramte lange herum, zeigte mir manches, begleitet von verruchten Blicken, kaufte am Ende jedoch nichts mit der interessanten Begründung, die Sachen seien ihr nicht teuer genug.
Anschließend schlug sie vor, das Hotel aufzusuchen und sich hinzulegen, ließ sich jedoch überreden, zuvor noch das Viertel Petite France zu besichtigen, das zu einem Straßburg-Besuch gehörte wie Sacré-Cœur zu Paris. Durch weihnachtlich geschmückte Sträßchen schlenderten wir zur Ill. Es gab in dieser Stadt hundert Mal mehr schöne Restaurants, stellten wir fest, als man auch bei viel Hunger und bestem Willen an einem Wochenende besuchen konnte.
In Petite France mutierte das weltstädtische Straßburg zur schnuckeligen Kleinstadt. Ich fand es rührend, während Theresa meinte, es sei früher schöner gewesen, irgendwie authentischer. Wir einigten uns darauf, dass es mindestens nett war. Vor allem, weil sich um diese Uhrzeit außer uns zwei Halbverrückten keine Touristen hierher verirrten. Eine Weile beobachteten wir von einer Brücke am Quai des Moulins die aufgeregt strudelnde Ill. Theresa gönnte sich eine ihrer immer häufiger werdenden Ausnahmezigaretten und konnte die studierte Historikerin nicht ganz verbergen. Sie erzählte mir vom Mittelalter, von Pest und Judenverfolgung. Ich hörte Geschichten von Goethe, der natürlich auch in Straßburg studiert hatte wie so viele Geistesgrößen vergangener Zeiten.
»Damals hat man die gotische Architektur noch barbarisch gefunden«, lernte ich an diesem Abend. »Goethe war einer der Ersten, die den Wert dieses Baustils wiederentdeckt haben. ›Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele‹, hat er später dazu geschrieben.«
Ich fühlte mich mit dem großen Dichter seelenverwandt.
Neben der Hochachtung vor mittelalterlicher Kirchenbaukunst hatte der junge Student der Rechte auch die Liebe zur Frau entdeckt. Seiner Friederike Brion hatte er in den »Sesenheimer Liedern« und später in »Dichtung und Wahrheit« ein kleines Denkmal gesetzt.
»Und am Ende hat der selbstverliebte Sack das arme Ding natürlich sitzen lassen und sie damit fast umgebracht«, war für heute der letzte Satz aus Theresas Mund zur deutschen Literaturgeschichte.
Inzwischen war es halb neun geworden, uns war grausig kalt, und wir stellten fest, dass eine Crêpe einen erwachsenen Menschen auf die Dauer nicht satt machte. So gingen wir – nun wesentlich zügiger – zurück in Richtung Innenstadt und sahen uns nach einem passenden Restaurant um. Aber entweder war das Etablissement bei genauerem Hinsehen nur von außen hübsch, es war restlos überfüllt, oder die Karte gab nichts zu unserem Appetit Passendes her. Theresa gelüstete es nach einem zünftigen Choucroute garnie, zu Deutsch einem Berg Sauerkraut mit Speck und fetten Würsten, mir stand der Sinn mehr nach der feinen französischen Küche. Nach längerem Suchen fanden wir schließlich, inzwischen halb erfroren, in einer wenig belebten Seitenstraße ein verschlafenes Lokal, das fast leer, ordentlich beheizt und zudem geschmackvoll möbliert war. Dort ließen wir uns nieder, streckten die kältesteifen Glieder und nahmen uns die Speisekarten vom Format eines Weltatlas vor.
Die
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