Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Unterführung unter den Bahngleisen hindurch zum Rheinhafen. Ich durchquerte das trotz des Windes nach Urin stinkende Loch. Bald kam im Zwielicht der Kehler Jachthafen in Sicht. In der Ferne Kräne unter den dunklen, rasend schnell dahinziehenden Wolken. Ein fünfachsiger Sattelschlepper mit französischem Kennzeichen dröhnte vorbei. Rechts Industriebauten, Lagerhäuser, eine hell erleuchtete, große Moschee mit weißen Minaretten. War auch Henning diesen Weg gegangen? Und was war dabei sein Ziel gewesen?
Der verfluchte Wind schien Jagd nach mir zu machen. Wohin ich mich auch wendete, er blies mir immer ins Gesicht, zerzauste meine Haare, ließ meine Hosenbeine flattern, wehte sogar Müll vor meine Füße, um mich zum Stolpern zu bringen. Als das erste Hafenbecken in Sicht kam, stieß ich die Hände noch tiefer in die Taschen und gab auf.
Fünf Minuten später betrat ich das gut geheizte Bistro, wo Theresa angeregt mit einem jungen Mann am Nebentisch plauderte. Er hatte einen aufgeklappten Laptop vor sich stehen. Einer dieser smarten Anzugträger, die in Depressionen versinken, wenn sie länger als fünf Minuten offline sind. Das Gespräch drehte sich um die Frage, ob italienisches Olivenöl griechischem vorzuziehen sei oder umgekehrt.
»Seit man dem italienischen nicht mehr trauen kann, nehme ich nur noch solches aus Kreta«, gab Theresa gerade zum Besten und schenkte mir ein halbes Lächeln. »Die sollen nicht so viel Spritzmittel verwenden, weil es dort bestimmte Schädlinge nicht gibt.«
Ich sank auf einen Stuhl an ihrem Tisch und winkte der übernächtigt aussehenden Bedienung.
»Was darf’s sein?«, rief sie quer durch den Raum.
»Tee! Ein Kännchen! Und heiß, bitte!«
»Ist dir kalt?«, wollte Theresa mit schlecht geheucheltem Mitleid wissen.
»Echte Männer kennen keine Kälte«, versetzte ich bibbernd.
Sie strich mit ihrer warmen Hand über meine kalte. »Irgendwas gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mit den Fingern ein wenig Ordnung in meine Haare zu bringen. Der Kerl am Nebentisch beschäftigte sich inzwischen wieder mit seinem Breitwand-Laptop.
Laptop.
»Waren Sie am Dienstag auch hier?«, fragte ich die Kellnerin, die soeben mit einer erschöpften Bewegung den Tee vor mich hinstellte.
»Ich bin jeden Tag hier von zehn Uhr morgens bis sechs am Abend.« Sie stöhnte und rollte dramatisch die großzügig schwarz umrandeten Augen.
Ich zeigte ihr ein Foto von Henning. »Haben Sie den schon mal gesehen?«
Die Frau mochte fünfundzwanzig sein. Ihr Gesicht war hager und unnatürlich blass, ihre Bewegungen waren die einer Sechzigjährigen.
»Am Dienstag?« Sie zog die Stirn kraus und deutete auf einen Tisch in der Ecke gleich neben der Heizung. »Da drüben hat er gehockt und im Internet gesurft. Wir haben hier nämlich freies WLAN.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Mittags«, erwiderte sie zögernd. »Am Ende ist es ziemlich voll gewesen, wie er dann auf einmal fortgelaufen ist. Gegen Mittag ist er aufgetaucht, und so zwischen eins, halb zwei ist er auf einmal wieder verschwunden. Sind Sie von der Polizei?«
»Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm? War er gut gelaunt?«
»Gut gelaunt, der?« Sie lachte hämisch. »Gesponnen hat er! Erst wollt er ’ne Fanta und nichts zu essen. Dann lieber ’ne Cola, und wie ich ihm die bring, will er auf einmal doch was essen. Irgendwas, was nicht teuer ist. Und ’ne zweite Cola hat er später auch noch bestellt. Und am Ende wollt er dann nicht mal zahlen. Hat seinen Computer zugeknallt und in seinen Rucksack gestopft und ist einfach fort. Ich ihm natürlich nach. Die Typen hab ich nämlich gefressen – erst ist ihnen nichts recht, und am Ende prellen sie auch noch die Zeche. Er hat dann so getan, als tät’s ihm furchtbar leid, und mir ’nen Zwanziger in die Hand gedrückt und gesagt: passt so. Käseweiß ist er auf einmal gewesen. Und dann gibt der mir einfach ’nen Zwanziger, und dabei war die Rechnung bloß elf vierzig. Der ist total durch ’n Wind gewesen, wenn Sie mich fragen. Sind Sie von der Polizei? Ja oder nein?«
Ich zeigte ihr meinen Dienstausweis.
»Kripo, wow! Hat der einen umgebracht oder so? Hier treibt sich ja viel komisches Volk rum. Drogenschmuggler, Zuhälter, Mädchenhändler … Kommt alles von Frankreich her über die Grenze.«
»Als er hereinkam«, fragte Theresa mit freundlich-aufmerksamem Blick, »war er da auch schon so durcheinander?«
»Glaub nicht.« Die Bedienung sah zur Decke. Schloss kurz
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