Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
junge und herzerwärmend freundliche Bedienung war zugleich die Wirtin, erfuhren wir ungefragt. Ihr Mann wirkte in der Küche, und überhaupt hatte man erst vor zwei Wochen eröffnet. Die pausbäckige Frau sprach nur gebrochen Deutsch, sodass Theresa Gelegenheit bekam, ihre Sprachkenntnisse vorzuführen. Inzwischen war sie von Choucroute garnie abgekommen und hatte sich für ein zünftiges Steak entschieden. Ich wählte kurz entschlossen dasselbe. Zu Rindfleisch passe am besten ein Pinot noir, behauptete die Wirtin, und zufällig habe sie noch einige wenige ganz vorzügliche Flaschen vom Weingut ihres Schwagers in Ottrott im Keller.
Nach der Suppe entdeckte ich auf dem Handy eine drei Stunden alte SMS von Klara Vangelis. Sie hatte den ganzen Nachmittag hindurch Straßburger Überwachungsvideos von übelster Qualität gesichtet, war dabei halb erblindet, schließlich jedoch fündig geworden. Ein Mädchen, das Lea sehr ähnlich sah, hatte sich am Abend der unseligen Klassenfahrt auf der Place Gutenberg herumgetrieben. Im östlichen Teil, zur Rue des Grandes Arcades hin. Die Bilder waren zu einer Zeit aufgezeichnet worden, als der Bus längst wieder auf der Autobahn in Richtung Heidelberg unterwegs war. Auch auf anderen Videos meinte Vangelis, Lea entdeckt zu haben. Aber sie war sich nicht sicher angesichts der Unmengen von Menschen, die den Tag über vor den Objektiven hin und her gewogt waren.
Um halb elf machten wir uns gut genährt und angemessen betrunken auf den Weg zurück zum Hotel. Theresa war blendender Laune und freute sich mit mir zusammen auf die kuschelige Wärme unseres französischen Betts. Der Weg zu diesem Bett sei gar nicht weit, versicherte ich meiner allmählich etwas erschöpften Liebsten, der zudem die Füße wehtaten. Noch enger umschlungen als zuvor überquerten wir einen großen, selbst zu dieser späten Uhrzeit noch gut bevölkerten Platz. Auch hier gab es einen Marché de Noël, der jedoch soeben geschlossen wurde. An den Buden wurden gerade die Lichter gelöscht und die Luken verrammelt. Am Ende des Platzes prangte in bläulichem Licht der größte Weihnachtsbaum, den ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Straßburger schienen nicht zur Kleinkrämerei zu neigen. Wir bestaunten die Riesentanne und diskutierten ihre Qualitäten und Schwächen.
»Wie heißt dieser Platz eigentlich?«, fragte ich, als wir zu Ende gestaunt hatten.
»Place Kléber«, wusste mein Lexikon auf zwei sehenswerten Beinen und küsste mich aufs linke Ohr.
Ich wandte mich um und ließ meinen Blick über den Platz schweifen.
»Du weißt nicht zufällig auch, wo die Place Gutenberg liegt?«
»Über die sind wir vorhin gegangen«, sagte Theresa und wies die Straße hinunter. »Die müsste da drüben irgendwo sein.«
Auch auf der deutlich kleineren Place Gutenberg standen einige weihnachtlich verzierte und inzwischen geschlossene Buden herum. Das Publikum hatte sich bereits verflüchtigt. Nur am Ende des Platzes hockten eng zusammengedrängt noch vier dunkle Gestalten neben einem mit Tannenreisig geschmückten Häuschen. Vielleicht ging ein wenig Wärme von der Bude aus, auf jeden Fall aber bot sie Schutz vor dem gemeinen Westwind. Ein älterer Kerl aus der Gruppe rief uns mit schwerer Zunge und auf Französisch etwas nach, was für mich nach Zote klang. Theresa parierte geistesgegenwärtig. Man lachte, und ich war ein wenig gekränkt, weil ich als Einziger den Witz nicht verstand. Man hob eine bauchige Flasche mit dunklem Inhalt und trank große Schlucke auf unser Wohl.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich, da meine angesäuselte Liebste offenbar nicht vorhatte, mich in den Kreis der Wissenden einzubeziehen.
»Dass wir wohl noch nicht lange verheiratet sind.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Dass ich seit zwanzig Jahren verheiratet bin. Allerdings nicht mit dir.«
Die einzige Frau in der Gruppe rief etwas mit quäkender Stimme, was auch Theresa erst nach zweimaligem Nachfragen verstand.
»Sie wünscht uns viel Spaß im Bett«, übersetzte sie dieses Mal ungefragt. »Und du sollst dir ordentlich Mühe geben. Und ob wir nicht auch einen Schluck möchten. Und den Rest übersetze ich nicht.«
»I’ll do my very best«, zitierte ich Freddie Frinton.
Erst als wir uns mit freundlichem Winken zum Gehen wandten, kam die längst erwartete Frage, ob wir nicht zufällig ein wenig überflüssiges Kleingeld in den Taschen hätten. Theresa zögerte. Gerade wollte ich sie weiterzerren, als mir ein Gedanke kam. Ich
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