Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
machte so abrupt kehrt, dass sie vorübergehend aus dem Gleichgewicht kam.
»Was ist?«, fragte sie verwirrt. »Ich trinke auf keinen Fall aus dieser Flasche!«
Ich zückte das einzige Foto, das ich von Lea hatte, und zeigte es den vier armseligen Gestalten.
»Frag sie, ob sie das Mädchen in letzter Zeit hier gesehen haben.«
Theresa parlierte charmant. Erntete ratlose Mienen. Verwunderte Blicke hin und her. Achselzucken. Die Flasche drehte eine weitere Runde.
Ich nahm das Foto wieder an mich und steckte es ein. Der Zufall hätte ja auch einmal auf meiner Seite sein können. Aber nun zögerte Theresa. Zog entschlossen ihr Portemonnaie aus der Handtasche und drückte jeder der frierenden Jammergestalten wortlos einen Zehneuroschein in die Hand. Und plötzlich sprudelten die Erinnerungen. Die vier begannen, eifrig zu diskutieren, Theresa übersetzte halblaut im Telegrammstil.
»Letzte Woche … Donnerstag … Nein, das war Freitag, weil am Donnerstag sind sie immer auf dem … Spanferkelmarkt … Am Abend, gegen zehn … Nein, elf. Nein, doch eher zehn … Und auch früher schon … Am Nachmittag … Dort drüben hat sie gestanden … Anscheinend hat sie auf wen gewartet … Am Nachmittag war es ein Junge, so ein großer … Am Abend dann ein Mann … Dreißig oder vierzig? … Eher dreißig als vierzig … Offenbar ist Babette, das ist die junge Schönheit mit den vielen Zahnlücken, sogar rübergegangen zu ihm, weil er nach Geld aussah und Mercedes fuhr … wollte ihn anschnorren … Er war aber ein arrogantes Übersetzichnicht … Das Mädchen war hübsch, sagt sie. Dunkle, lange Haare.«
»Lea.«
»Sehr nervös. Vielleicht sogar ein wenig verzweifelt …«
»Was wissen unsere neuen Freunde sonst noch über den Mann mit dem Mercedes?«
»Lea hat ihm etwas überreicht. Ein dünnes Buch oder einen dicken Brief oder etwas Ähnliches. Sie haben geredet … Sie wollte ihm das Ding wieder wegnehmen. Und dann ist er plötzlich in seinen Wagen gesprungen und davongefahren.«
»Heißt das, sie hatten Streit?«
Theresa übersetzte.
»Sie waren wütend … haben sich beschimpft. Deshalb sind unsere neuen Freunde überhaupt erst auf die beiden aufmerksam geworden. Babette sagt, Lea hätte den Mann provoziert und gegen die Brust gestoßen … Er hat sie an den Schultern gepackt und geschüttelt. Sie hat ihn gegen das Schienbein getreten. Und dann … Moment … Ein großer Mercedes … Limousine, braun, glänzend … wahrscheinlich ziemlich neu.«
Babette, die bisher die meisten Redebeiträge geliefert hatte, verstummte mit einer Miene, als wäre ihr plötzlich das Thema des Gesprächs entfallen. Dann fiel ihr aber doch noch etwas ein. Das Sprechen schien ihr allmählich schwerzufallen.
»Er hat Lea sehr grob angefasst«, übersetzte meine Liebste leise. »Aber gleichzeitig hat er sich Mühe gegeben, nicht zu laut zu werden … Wollte wohl kein Aufsehen erregen. Einmal hat es ausgesehen, als wollte er ihr an den Hals gehen. Babette meint, er war vielleicht Leas älterer Bruder, der sie nach Hause holen wollte. Jean ist überzeugt, er war ihr Liebhaber. Die beiden waren ein Paar und hatten Streit wegen dieses Umschlags, oder was immer es war.«
»Das Kennzeichen?«
Babette hob betrübt die Schultern. »Sie ha’n Deitsch g’sprochen«, krächzte sie im Elsässer Dialekt und wechselte gleich wieder ins vertrautere Französisch.
»Mit quietschenden Reifen ist er losgefahren«, dolmetschte Theresa. »Fast hätte er noch einen Unfall gebaut. Ein Taxi, das von hinten kam …«
»Was hat Lea anschließend gemacht?«
Wieder ging es eine Weile hin und her.
»Sie hat noch ein paar Minuten herumgestanden wie bestellt und nicht abgeholt. Hat an ihrem Handy herumgefingert. Vielleicht hat sie gehofft, dass ihr Übersetzichnicht zurückkommt. Dann ist sie plötzlich eilig über den Platz gelaufen. Da lang.«
Babette machte eine großspurige Bewegung zum südwestlichen Ende des Platzes hin und nickte mir wichtig zu.
Wir bedankten uns überschwänglich. Man trank ein zweites Mal auf unser Wohl und wünschte uns eine wunderbare Nacht.
»Mann, ist mir kalt«, stöhnte meine Liebste mit theatralisch klappernden Zähnen und schmiegte sich ganz fest an mich. »Und jetzt tun wir das, was wir den netten Menschen versprochen haben, ja?«
16
Schon am Samstagnachmittag mussten wir zurück. Theresa hatte am Abend familiäre Verpflichtungen, über deren Natur sie sich nicht weiter ausließ. Auch das war Teil unserer seltsamen
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