Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Beziehung: Nicht jeder brauchte vom anderen alles zu wissen. Es gab Zeiten, in denen wir kein Paar waren und uns umso mehr auf das nächste Zusammensein freuten. Wir waren beide erschöpft und unausgeschlafen, aber hochzufrieden und sangen während der Rückfahrt sehr falsch sehr schöne französische Weihnachtslieder.
Im Lauf des Vormittags hatten Kehler Kollegen schwarze Kunststoffteile gefunden, die möglicherweise von Lea Lassalles Laptop stammten, erfuhr ich, als ich zu Hause die zentrale Nummer der Direktion wählte, noch bevor ich den Mantel auszog. Am Rand des westlichen Hafenbeckens hatten die Bruchstücke gelegen, und der Rest war verschwunden.
»Ein Samsung«, erklärte mir ein junger Mann, der klang, als hätte er eben erst laut und ausgiebig gelacht. »Der Junge hat das Ding wahrscheinlich zu Klump getreten und anschließend ins Wasser geschmissen. Dabei ist die Kiste höchstens zwei, drei Jahre alt gewesen. Die hätte bei eBay locker noch ihre zweihundertfuffzig gebracht.«
Im Hintergrund wurde schon wieder gelacht.
»Die sollen umgehend einen Taucher ins Wasser schicken«, sagte ich.
»Darauf sind die Kehler schon selber gekommen. Anscheinend haben sie auch schon wen, der es machen wird. Aber erst morgen.«
Ich bat den jungen Kollegen, mir die Koordinaten des Fundorts durchzugeben, und sah mir das Ganze im Internet an. Die Stelle, wo Henning den Laptop zerstört hatte, lag zwischen lang gestreckten Lagerhallen und fast zwei Kilometer von dem Punkt entfernt, wo er oder ein anderer seinen Rucksack ins Gebüsch geschleudert hatte.
Von ihm selbst fehlte immer noch jede Spur. Ich hoffte sehr, dass der Taucher einen zerstörten Laptop fand und sonst nichts.
Die einzige Erklärung für Hennings Verhalten, die mir einfallen wollte, war die, auf die Theresa schon am Vortag gekommen war: Er musste auf Leas Computer etwas entdeckt haben, was ihn völlig aus der Fassung brachte. Hatte er ihre E-Mails gelesen, in denen sie sich über ihn und seine Gefühle lustig machte? Vielleicht eine Mail, der er entnehmen musste, dass sie einen anderen liebte? Und reichte das, um sich ins eiskalte Wasser zu stürzen? In seinem Alter und Gemütszustand vielleicht schon.
Ein Anruf bei Doro ergab, dass Henning zwar nicht übermäßig sportlich, aber doch ein ordentlicher Schwimmer war. Damit war ein Selbstmord durch Ins-Wasser-Springen praktisch ausgeschlossen. Da musste noch etwas anderes gewesen sein. Hatte vielleicht jemand nachgeholfen? Ich grübelte und grübelte und kam keinen Schritt weiter.
An diesem Abend fühlte ich mich nutzlos und sehr einsam. Die Zwillinge waren wie üblich unterwegs, und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Musik nervte mich, der Rotwein, den ich vor Kurzem noch mit Genuss getrunken hatte, schmeckte auf einmal sauer, und das Fernsehprogramm war eine einzige Katastrophe. In der Nacht schlief ich, obwohl todmüde, unruhig und träumte von eisigen Ozeanen und sinkenden Schiffen.
Am Sonntagmorgen ging es mir besser. Während meines ausgiebigen und aufgrund des jugendlichen Schlafbedürfnisses meiner Töchter herrlich einsamen Frühstücks mit Rührei und aufgebackenen Brötchen erreichte mich ein Anruf aus Kehl. Erstens würde der Taucher nun doch erst am Montag beginnen, das Hafenbecken abzusuchen. Und zweitens hatte eine Streife Hennings Personalausweis und Bankkarte sichergestellt. Damit war auch meine Hoffnung zunichte, der Junge könnte ohne Gepäck weitergereist sein. Wieder wurde es ein wenig unwahrscheinlicher, dass er noch lebte.
Den Fund verdankten die Kehler dem Zufall. Ein Obdachloser, ein den Kollegen bestens bekannter Sechzigjähriger aus Hamburg, war am Morgen betrunken durch die Stadt gewankt und hatte alte Mütterchen auf ihrem Weg zum Frühgottesdienst mit seinen Ansichten zu Gott, Kirche und Papst verschreckt. Die Streifenwagenbesatzung hatte ihn zur Rede gestellt und festgenommen, als er auf ihre Ermahnungen nicht reagierte und stattdessen begann, mit leeren Flaschen aus seinem Einkaufswagen um sich zu werfen.
»Der wollte in den Knast, damit er bei der Kälte nicht im Freien schlafen muss«, war der Kollege überzeugt.
In einer der abgewetzten Einkaufstüten des Hamburgers hatten die Kollegen ein leeres Portemonnaie, ein wenig Geld sowie Hennings Ausweis und EC-Karte gefunden. Als man ihn fragte, wie die Sachen in seinen Besitz gekommen waren, behauptete der Obdachlose, er habe alles aus einem Papierkorb beim Bahnhof gefischt.
Nach diesem Anruf schmeckte mir das
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