Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Minuten zu spät und mit dem Kopf noch im Büro unser Liebesnest betrat, eine kleine Zweizimmerwohnung in Neuenheim. Sie fand, ich machte mir zu viele Sorgen um anderer Leute Kinder, ließe die gebotene professionelle Distanz vermissen und wolle wieder einmal die ganze Welt auf einmal retten. Womit sie wahrscheinlich in allen Punkten recht hatte. Von der Verhaftung des Straßburger Frauenmörders hatte sie schon in den Nachrichten gehört.
Erst als ich ihr von Gröwer erzählte, begann sie mit mir zusammen zu überlegen, wie man ihm an den weißen Kragen könnte, ohne als Kripochef seine Stellung zu riskieren.
Schließlich wandten wir uns dem zu, weshalb wir zusammen waren: uns zu lieben. Uns zu riechen. Zur Ruhe zu kommen. Die Nähe des anderen zu spüren. Zu uns selbst zu finden.
Von Henning erzählte ich an diesem Abend nur das Nötigste. Und von Doro überhaupt nichts.
»Wann kriege ich eigentlich ein Exemplar von deinem neuen Buch?«, fragte ich, als wir ausreichend zur Ruhe gekommen waren. »Sollte es nicht schon vor drei Wochen erscheinen, damit ihr das Weihnachtsgeschäft mitnehmen könnt?«
Theresa steckte sich eine Zigarette an und grummelte etwas von Problemen mit der Druckerei. »Und in einer Woche ist Heiligabend! Ich hoffe, es reicht noch, um wenigstens ein paar Hundert zu verkaufen.«
Nach dem ersten Band »Kabale und Liebe am Heidelberger Hof«, dessen Verkäufe zumindest um Heidelberg herum ganz beachtlich waren, hatte Theresa sich in ihrem zweiten Buch dem ernsten Thema Terrorismus gewidmet. Es sollte zwar auch ein wenig menscheln, denn auch politisch extrem eingestellte und gewaltbereite Menschen kennen Gefühle wie Liebe und Eifersucht. Aber allein der Titel, »Gewalt von unten – Freiheitskämpfer und Terroristen«, ließ mich fürchten, dass das Buch als Ladenhüter enden würde, obwohl es in einem großen Kölner Verlag erschien.
Aber auch das behielt ich an diesem Abend für mich.
Ich hatte miserabel geschlafen in der Nacht, von turbulenten Bundestagsreden geträumt, von Zwischenrufen und kindergartenähnlichen Zuständen. Wenn ich mich richtig erinnerte, war es um die Frage gegangen, ob Terroristen in der Bahn künftig umsonst erster Klasse reisen durften.
Balke erwartete mich schon vor meiner Bürotür. Seine Gesichtsfarbe und die Kleinheit seiner Pupillen ließen mich fürchten, dass er die Nacht vor dem Computer verbracht hatte. Und es sah nicht aus, als hätte er Erfolge zu vermelden.
»Ich kann Ihnen immer noch nicht sagen, ob Gröwer in Straßburg war«, gestand er, als wir uns gegenübersaßen, und rieb sich die überanstrengten Augen. »Sicherheitshalber habe ich auch alle infrage kommenden Autovermietungen abgeklappert, außerdem die Bahnhöfe, Taxis sowieso, aber …« Mutlos zuckte er die Achseln.
»Sie wollen ihn kriegen, was?« Ich bemühte mich, meine Frage nicht allzu mitfühlend klingen zu lassen.
»Es gibt nichts, was mir mehr Spaß machen würde«, brummte er und gähnte. »Der Mercedes könnte natürlich einem Bekannten gehören, einem Freund, irgend so was. Vielleicht ist er doch braun, und die Zeugen haben sich nicht geirrt. Oder er hat zwei verschiedene Sternchenkutschen, oder er hat sich abholen lassen …«
»Herr Balke, bitte! So kommen wir doch nicht weiter.«
»Als Nächstes werde ich eine Liste seiner hiesigen Kontakte zusammenstellen, habe ich mir überlegt. Ein Typ wie der kennt natürlich massenhaft Leute. Aber nicht jeder davon fährt Mercedes. Und nicht jeder wird ihm sein Auto leihen.«
»Herr Balke …«
»Ich bleibe dran.« Er schien mich überhaupt nicht mehr zu hören. »Und wenn das Wochenende in die Grütze geht. Evalina ist sowieso bei ihrem Vater.«
Ich versuchte, ihn mit einem Themenwechsel in die Realität zurückzuholen: »Was ist eigentlich aus Leas Festplatte geworden?«
Balke stockte und sah mich verständnislos an.
»Frau Vangelis hat sie nach Griechenland geschickt. Sagen Sie ihr, sie soll da bitte mal nachhaken.«
Sönnchen kam mit einem Cappuccino für mich, einem Latte macchiato für Balke und mitleidigen Blicken für uns beide.
Wir steckten wieder einmal fest. An keiner Front ging es mehr voran. Und das Schlimmste war: Ich hatte keine Idee mehr, was wir noch tun könnten.
Mein Vormittag verstrich in Trübsal und Kleinigkeiten. Draußen schien es immer dunkler zu werden. Als es zwölf war, zwang Sönnchen mich, essen zu gehen. Sie selbst ging nie in die Kantine, sondern aß in der Mittagspause mitgebrachte Brote.
Als
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