Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
einer großen Cola, während sie irgendwelche Unterlagen studierte und manchmal etwas in ihr iPad tippte. Zwei Männer, der eine den rechten, der andere den linken Arm geschient, spielten mit tiefem Ernst Karten. Hinter dem Tresen langweilte sich eine sandblonde dürre Frau und sah uns an, als wären wir Störenfriede. Es duftete nach frisch gebackenem Kuchen.
Ich bestellte einen Cappuccino, weil ich immer Cappuccino bestellte, Doro ein Glas Nero d’Avola. Wenn die Uhr über dem Eingang richtig ging, dann war es halb zehn.
»Das muss jetzt sein«, flüsterte sie heiser. »Ich brauche das jetzt.«
Ich legte meine Hand auf ihre und drückte sie vorsichtig. »Wie geht’s ihm?«
»Unverändert. Die Ärzte sagen, das bedeutet nichts. Er kann jederzeit aufwachen. Jede Minute. Die vegetativen Funktionen sind stabil, er ist jung und kräftig, sagen sie …«
»Er wird wieder gesund. Ich bin sicher.«
Sie warf mir einen feindseligen Blick zu. »Woher willst du das wissen? Bist du etwa Arzt?«
Ich schwieg.
Sie senkte den Blick, nippte an ihrem dunklen Rotwein. Draußen blinzelte hin und wieder die Sonne zwischen dunklen Wolken hindurch. Der Schnee war über Nacht fast vollständig weggetaut. Nur in einigen schattigen Ecken lagen noch schmutzige Reste der weißen Pracht vom Vorabend. Die dunkle alte Dame erhob sich und ging mit unsicheren Schritten zum Ausgang. Doro starrte in ihren Wein.
»Ich weiß nicht, was werden soll«, sagte sie schließlich. »Er ist doch noch so jung … Manche wachen erst nach Jahren wieder auf. Manche nie. Man kann nur warten. Und das macht mich so wahnsinnig, dieses Warten.«
Ich zermarterte mir das Hirn nach etwas, was sie trösten könnte. Aber es fiel mir nichts ein.
»Du siehst müde aus, Alexander«, sagte sie irgendwann.
»Ich brauche Urlaub. Nach Weihnachten habe ich mir ein paar Tage freigenommen.«
Dann schwiegen wir wieder. Gestern waren die Ergebnisse der Spurensicherung gekommen: Henning war unter Wasser mit dem Kopf gegen etwas Hartes gestoßen. In seiner Kopfwunde hatte man winzige Reste von Sand und Wasserpflanzen gefunden, die nur in geringer Tiefe wuchsen.
»Erzähl mir von ihm«, sagte ich schließlich. »Erzähl mir von Henning.«
Endlich sah sie auf. Lächelte traurig.
»Was soll ich erzählen? Er war ein ruhiges Kind. Hat fast von Anfang an durchgeschlafen. Die ersten sechs Wochen musste er in der Klinik bleiben. Aber danach hat er gleich durchgeschlafen. In der körperlichen Entwicklung war er ein wenig langsam. Erst mit neun Monaten hat er begonnen zu krabbeln, und mit anderthalb hat er laufen gelernt. Aber ein helles Köpfchen war er immer schon. Mit einem Jahr hat er gesprochen wie ein Wasserfall. Später, im Kindergarten, hat er sich schwergetan, sich an die vielen Kinder zu gewöhnen. In großen Gruppen hat er sich nie wohlgefühlt. In der Schule war er immer vorn dabei. Obwohl er nicht besonders fleißig war. Er hätte …«
»Du sprichst in der Vergangenheit von ihm. Das darfst du nicht.«
Sie schluckte. Trank einen großen Schluck Wein.
»Was soll das?«, fragte sie sich selbst. »Was soll dieses Gerede? Er liegt da oben und wird nie wieder die Sonne sehen, und das ist die Wahrheit.«
Die Kartenspieler bestellten zwei weitere Pils. Die Nonne klappte ihr iPad zu. Ich hatte mich noch selten so fehl am Platz gefühlt. Doros Weinglas leerte sich zügig.
»Warum war er in der Klinik?«, fragte ich, um das Gespräch nicht schon wieder einschlafen zu lassen.
Sie musterte mich verständnislos.
»Du hast gesagt, er war die ersten Wochen in der Klinik. Als er noch ein Baby war.«
Ihr Blick irrte ab. »Er war zu früh. Henning war ein Siebenmonatsbaby.«
In mir zerplatzte etwas mit lautlosem Knall. Eine Befürchtung, die zugleich eine Hoffnung gewesen war. Henning war eine Frühgeburt gewesen. Ich konnte unmöglich sein Vater sein.
Erst mit Verzögerung wurde mir bewusst, dass Doro mich ernst und aufmerksam ansah. Dann lächelte sie plötzlich, als wüsste sie, was in mir vorging.
21
Sönnchen empfing mich stehend und mit dem Hörer in der Hand.
»Das war grad Straßburg«, sagte sie, während ein Gewitter widersprüchlicher Gefühle über ihr Gesicht zuckte. »Sie haben ihn …«
Vorsichtig, als wäre das Telefon aus Glas, legte sie auf.
Der Mann, der bislang vier Frauen entführt, aufs Blut gequält, geschändet und am Ende getötet hatte, war ein ehemaliger Polizist. Sönnchen hatte alles genau notiert. Luc Barthélémy, dreiundfünfzig Jahre
Weitere Kostenlose Bücher