Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
angefangen.« Versonnen sah er eine Weile zum Fenster hinaus, wo dunkle Wolken eilig über die Stadt hinwegzogen. »Dieser Gröwer ist genau die Sorte Politiker, die ich gefressen habe. Dem ist es scheißegal, in welcher Partei er ist und wofür er eintritt, solange es nur karrieretechnisch nach oben geht.«
»Sehen Sie eine Chance, unauffällig herauszufinden, wo er am achten Oktober war? Und am zweiten Dezember?«
Balke grinste schelmisch. »An dem Wochenende um den achten Oktober war er definitiv nicht in Berlin. Er hat hier in Heidelberg am Freitagabend an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, an der Uni. ›Wege aus der Eurokrise‹ lautete das Thema, und Gröwer hat die Linie seiner Partei vertreten, was immer die sein mag. Mit dabei war noch ein Vertreter der Schwarzen und eine Frau von der Linken. Die Veranstaltung ging bis halb elf. Ich habe im Internet Fotos gefunden, auf denen seine Visage zu besichtigen ist. Anschließend gab’s noch Sekt und Häppchen. Das hat er sich auch nicht entgehen lassen. Ich glaube kaum, dass er in der Nacht noch nach Berlin zurück ist. Wo er am Samstagvormittag gesteckt hat, weiß ich nicht. Noch nicht. Jedenfalls scheint er keine Termine gehabt zu haben. Er könnte also problemlos an dieser Tankstelle gewesen sein. Vielleicht haben die zwei eine Spritztour in den Schwarzwald gemacht, um später in einem schönen Hotel … Warum haben die sich ausgerechnet an der Tanke getroffen, was meinen Sie?«
»Um nicht aufzufallen?«
Balke nickte befriedigt. »Am Samstagabend sollte er eigentlich bei der IHK in Mannheim als Ehrengast auftreten. Den Termin hat er aber kurzfristig absagen lassen. Angeblich wegen einer Krisensitzung im Ministerium in Berlin. Davon findet man im Web allerdings nichts.«
»Was bei einer internen Sitzung des Verteidigungsministeriums vielleicht nicht verwunderlich ist.«
Balke blätterte ungerührt weiter. Wir kamen zum zweiten Dezember, dem Tag, an dem Lea verschwand.
»Den Tag über war er nachweislich in Berlin. Am Vormittag hat er im Bundestag sogar eine Rede gehalten. Der Text ist auf seiner Homepage nachzulesen, und bei YouTube gibt’s ein Video davon. Wo er am Abend war, weiß ich noch nicht.«
»Um welche Uhrzeit war diese Rede?«
»Viertel nach zehn bis halb elf. Die Sitzung in Berlin war erst nachmittags um vier zu Ende, aber vielleicht hat er sich ja ein bisschen früher verkrümelt. Selbst wenn er bis zum bitteren Ende geblieben ist – die letzte Maschine ab Tegel geht um zwanzig nach neun und landet um halb elf am Baden-Airpark. Von dort nach Straßburg fährt man keine Dreiviertelstunde, wenn man es krachen lässt.«
»Dumm nur, dass wir ohne richterliche Genehmigung die Passagierlisten nicht einsehen können.«
Balke grinste schon wieder unternehmungslustig. »An den Ausfahrten der Parkplätze hängen doch heute praktisch überall Videokameras.«
Nachdem mein eifriger Mitarbeiter eilig verschwunden war, stellte ich fest, dass mein elektronischer Terminkalender für die folgenden beiden Stunden keine Verpflichtungen für mich bereithielt. »Interne Vorgänge« trug ich für manche Zeiten ein, um hin und wieder Ruhe für die wichtigen Dinge zu haben. Zum Beispiel, um endlich wieder nach Ludwigshafen zu fahren und nach Henning zu sehen.
Ein Lift brachte mich hinauf zur zweiten Etage, wo sich die Intensivstation befand. Ein Gong ertönte, die Türen surrten auf, und ich lief Doro buchstäblich in die Arme. Sie weinte und klammerte sich spontan an mir fest, als hätte sie nur auf mich gewartet.
»Halt mich«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Halt mich!«
Ein seltsames Gefühl, sie nach so vielen Jahren wieder zu fühlen. So nah und fremd und zugleich vertraut. Sie hatte kein Parfüm aufgelegt. Vielleicht mit Absicht, vielleicht hatte sie es auch einfach nur vergessen. Ein klein wenig roch sie nach warmer Milch.
»Wie geht’s ihm?«, fragte ich, als ihr Schluchzen und Zittern allmählich schwächer wurde.
Sie antwortete mit einem schwachen Kopfschütteln.
»Sollen wir irgendwo einen Kaffee zusammen trinken?«
Doro löste sich von mir und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Unten gibt es eine Cafeteria, glaube ich.«
Der Lift, mit dem ich gekommen war, wartete mit offener Tür auf uns. Schweigend fuhren wir nach unten. Die Cafeteria im Erdgeschoss war jetzt, am Vormittag, nur schwach besucht. Eine alte Dame in schwarzem Kleid schlürfte mit versteinerter Miene einen Tee. In einer Ecke nippte eine Nonne in Tracht an
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