Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
besorgen, und so schlürfte ich notgedrungen die mafiösen Köstlichkeiten aus dem Keller meines Freundes. Wir kamen überein, glückliche Menschen zu sein.
»Manche Menschen scheinen das Unglück ja magnetisch anzuziehen.« Ich erzählte Lorenzo von Leas toter Mutter und ihrem an sich selbst verzweifelnden und sich zielstrebig zu Tode saufenden Vater.
»Glücklich sein ist kein Zustand, sondern ein Talent«, bemerkte Lorenzo dazu. »Ein Talent, das bei uns leider wenig verbreitet ist. Daher rührt ja unser übertriebener Wohlstand.«
Ich ließ die Gabel sinken.
»Hat ein glücklicher Mensch Anlass, sich fünf Tage die Woche von morgens bis abends abzustrampeln?«, fragte er. »Braucht einer, der glücklich ist, ein dickes Auto? Muss jemand, der zu Hause glücklich ist, alle Ecken der Welt bereisen? Sind die Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen die mit den glücklichsten Bürgern?«
Wohl eher nicht.
»Glücklich macht uns nicht das Besitzen«, Lorenzo schob bedächtig einige Gräten an den Tellerrand, »sondern das Bekommen. Aber das ist leider ein sehr flüchtiges Glück, weshalb wir wie Drogensüchtige in immer kürzeren Abständen immer neue, noch schönere Dinge anschaffen müssen.«
Mein Handy summte. Ich warf Lorenzo einen um Verzeihung bittenden Blick zu und nahm es zur Hand. Theresa schrieb, die Lesung sei ein voller Erfolg gewesen, achtunddreißig Köpfe im Publikum, nicht zu vergessen einige Mitarbeiterinnen des Verlags und ihre Agentin. Unter einem rauschenden Erfolg hatte ich mir etwas Größeres vorgestellt, aber das würde ich natürlich für mich behalten. Immerhin war auch Presse da gewesen und sogar eine Fernsehkamera von einem lokalen Sender.
»Der Verleger meint, das Buch könnte sogar ein Bestseller werden«, schrieb Theresa weiter, und nun werde die angehende Bestsellerautorin zusammen mit den Leuten vom Verlag ordentlich einen trinken gehen. Ich wünschte ihr und allen Beteiligten eine Menge Spaß und spürte beim Tippen, dass ich immer noch verstimmt war. Außerdem war inzwischen eine weitere Nachricht von Runkel gekommen. In der Görresstraße war alles ruhig.
Lorenzo wollte wissen, worum es in Theresas Werk ging, und bat um ein signiertes Ehrenexemplar. Schließlich landeten wir bei der Politik, kamen vom Hundertsten ins Tausendste und verabschiedeten uns kurz vor elf mit dem befriedigenden Gefühl, die großen Probleme der Menschheit im Grundsatz gelöst zu haben.
Der Regen hatte so plötzlich wieder aufgehört, wie er am frühen Nachmittag begonnen hatte. Gut gelaunt und leicht angeheitert machte ich mich auf den Weg nach Hause, überquerte die Alte Brücke, grüßte Nepomuk auf seinem Podest, bewunderte zum tausendsten Mal das schläfrig am Hang trutzende und würdig beleuchtete Schloss. Menschen hasteten mit gesenkten Köpfen an mir vorüber. Nur wenige, die langsameren, schienen mir glücklich zu sein. Vielleicht frisch verliebt. Vielleicht einfach nur von der Natur mit Optimismus gesegnet. Vielleicht waren es solche, die sich keine Gedanken um die Rendite ihrer Geldanlagen machen mussten. Schiller fiel mir ein, mein Anlageberater, der gerade jetzt vielleicht das eine oder andere Glas auf mein Wohl trank. Und damit Runkel.
Ich prüfte mein Handy: Vor knapp einer Stunde hatte er die letzte SMS geschickt. Jetzt war es zwei Minuten nach elf. Ich gab ihm noch eine Gnadenfrist von fünf Minuten, schlenderte die Hauptstraße entlang, zog ein kurzes Resümee meines Lebens, kam zum Schluss, dass Lorenzo unrecht hatte. Man konnte auch glücklich sein, wenn man nicht arm war. Zwischendurch kam von der Bestsellerautorin eine lange, vor Ausgelassenheit sprühende Kurznachricht. Nach einem lustigen Abend war man auf dem Weg ins Hotel, und ob wir später noch telefonieren könnten. Es gebe so viel zu erzählen, und sie sei so glücklich und das Schriftstellerleben wunderbar.
Als ich den Bismarckplatz erreichte, war ich zum Schluss gekommen, dass nicht Geld glücklich machte, sondern die Liebe. Ein Mensch, der nicht liebte, nicht geliebt wurde, konnte so reich oder arm sein, wie er wollte …
Die Uhr an der Straßenbahnhaltestelle zeigte Viertel nach elf, es begann wieder zu regnen, und Runkel hatte sich immer noch nicht gemeldet. Plötzlich nicht mehr ganz so glücklich, wählte ich seine Nummer. Er meldete sich nicht. Ich überlegte kurz, versuchte es noch einmal und sah mich schließlich nach einem Taxi um.
Die Görresstraße war nur schwach beleuchtet. Der Regen war hier viel
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