Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
zu den Bahnsteigen. »Ich habe im Moment ein ungewöhnlich gutes Angebot auf dem Tisch, das in spätestens zwei, drei Tagen überzeichnet sein wird. Übermorgen ist zwar Heiligabend, aber ein guter Berater schläft nie, sage ich immer. Für Sie habe ich immer Zeit. Und wenn ich immer sage, dann meine ich immer.«
Während ich zur Direktion zurücklief, kam die nächste SMS von Runkel. Schiller sei beim Bahnhof gewesen, las ich, habe dort eine unbekannte Person getroffen, die mir verblüffend ähnlich sah, Sekt getrunken und Pizza gegessen.
26
Kurze Zeit später saß Schiller wieder gemütlich zu Hause in seinem verschwenderisch beleuchteten Bungalow an der Görresstraße, erfuhr ich, als ich wieder am Schreibtisch saß. Die ersten Nachbarn hatten Runkel schon misstrauisch beäugt. Aber bisher hatte es noch keine beunruhigten Anrufe bei der Polizei gegeben.
Den Nachmittag über kamen die Kurznachrichten pünktlich zur vollen Stunde. Mein Anlageberater blieb zu Hause, was angesichts des Wetters das Beste war, was er tun konnte. Seit Stunden goss es wieder in Strömen. Ich hatte mit knapper Not die Direktion noch trocken erreicht.
Abends um sieben wagte Runkel zum ersten Mal anzufragen, ob irgendwann mit Ablösung zu rechnen sei.
»Morgen Vormittag«, simste ich entspannt zurück. »Sie schaffen das schon. Ich vertraue Ihnen.«
Inzwischen war ich überzeugt, dass Schiller Leas unbekannter Liebhaber war. Alles, alles passte. Balke hatte im Internet Fotos aufgetrieben, die Schiller beim Tennisspielen zeigten. Dabei hatte er entdeckt, dass unser neuer Verdächtiger am rechten Unterschenkel eine Hautanomalie hatte, einen etwa handgroßen hellen Fleck in der ansonsten sportlich gebräunten Haut. Und dieser Fleck war auch auf einem der Videoschnipsel von Leas Laptop zu erkennen.
Als ich abends schon in der Tür von meinem Vorzimmer zum Flur war, hörte ich mein Telefon noch einmal klingeln. Der Anruf kam aus Kehl, erkannte ich an der Vorwahl. Und er brachte weitere gute Nachrichten: Der Fall Henning Dellnitz war aufgeklärt. Der Obdachlose, bei dem die Kehler Kollegen Hennings Papiere gefunden hatten, hatte vor seinem Zellengenossen damit geprahlt, kein kleiner Taschendieb, sondern praktisch ein Raubmörder zu sein, einer von den ganz harten Kerlen. Und der hatte ihn umgehend verpfiffen.
»Spuren von Gewalteinwirkungen haben wir an dem Jungen ja nicht gefunden«, erklärte mir der erkältete Kollege von neulich. »Aber ich hab mir gleich gedacht, dass der nicht selber ins Wasser gesprungen ist. Der Penner hat sein Lager in einer leer stehenden Lagerhalle im Hafen gehabt. Und von da aus hat er beobachtet, wie Henning den Laptop zertrampelt hat. Und außerdem hat er den Rucksack gesehen, den der Junge an einen Poller gelehnt hatte. Henning hat den Laptop ins Wasser gepfeffert, und dann hat er sich hingehockt und geheult, und da hat der Penner gedacht, wär doch vielleicht eine günstige Gelegenheit, ihm den Rucksack zu stibitzen. Eigentlich wollt er nur ein paar Euro klauen, weil er total abgebrannt war.«
»Aber Henning hat es natürlich gemerkt.«
»Sie haben ein bisschen gerangelt, und dabei ist der Junge rückwärts ins Wasser gefallen und wahrscheinlich mit dem Kopf auf einer Betonkante oder einer Treppenstufe unter Wasser aufgeschlagen. Wie der Penner gesehen hat, dass Henning bewusstlos im Wasser treibt, hat er es natürlich mit der Angst gekriegt. Er ist davongelaufen, aber den Rucksack hat er doch nicht stehen lassen können.«
»Später hat er ihn durchwühlt …«
»Und ins Gebüsch geschmissen, richtig. Und in der Nacht haben sich dann anscheinend noch andere bedient.«
Henning wäre wenige Minuten später tot gewesen, wäre nicht die »Henriette Buyten« gekommen, das holländische Containerschiff mit der aufmerksamen Besatzung.
Theresa hatte an diesem Abend ihre erste Lesung aus dem neuen Buch. Die Präsentation fand in Köln statt, da dort der Verlag residierte. Ich wäre gerne dabei gewesen, hatte jedoch verzichtet, da es erstens im Fall Lea endlich voranging und sie zweitens schon von ihrem Mann begleitet wurde, was mich mehr kränkte, als ich mir eingestehen mochte. Um ehrlich zu sein: Sie hatte mich nicht einmal gefragt, ob ich mitkommen wollte.
Da ich nicht mit Theresa in Köln sein durfte, verbrachte ich den Abend bei Lorenzo. Wir speisten nach einem süditalienischen Rezept gedünstete Doraden und sprachen über das Leben. Dieses Mal hatte ich es in der Hektik nicht geschafft, Wein zu
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