Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Wohnzimmer geht nach hinten, zum Garten«, sagte ein etwas jüngerer grauhaariger Herr mit kantigem Kinn und versuchte vergeblich, den Mann von Welt zu geben, den nichts aus der Fassung bringt.
»Wir haben schon geschlafen und sind erst von Ihrem Geschrei aufgewacht.« Eine vielleicht dreißigjährige, in ihrem Morgenmantel frierende und auch ohne Make-up höchst attraktive Frau gestikulierte fahrig. »Nicht, dass ich Ihnen einen Vorwurf machen möchte. Es ist ja völlig normal, dass Sie um Hilfe rufen, in so einer Situation.«
Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich um Hilfe gerufen hatte.
Ansonsten betretenes Schweigen, offen stehende Münder, blöde Mienen, immer wieder Kopfschütteln.
»Schusswunde«, hörte ich den Notarzt sagen. »Wahrscheinlich Aorta perforiert … So schnell wie möglich auf den Tisch …«
Ich wandte mich erneut an die Nachbarn. »Einen Schuss hört man doch, Herrgott noch mal! Auch wenn man schläft. Es kann auch länger als eine Stunde her sein.«
Sekunden später federte der Notarzt hoch. »Okay so weit. Auf geht’s!«
Das Martinshorn gellte wieder los, der Rettungswagen raste mit heulendem Motor davon. Ich hatte vergessen zu fragen, wohin sie Runkel bringen würden. Aber das entschied sich ja oft genug erst während der Fahrt.
Ich wiederholte meine Frage zum zweiten Mal und dieses Mal noch lauter, noch eindringlicher: »Hat denn wirklich niemand einen Knall gehört?«
Achselzucken. Kopfschütteln.
»Ein Schalldämpfer wahrscheinlich«, meinte eine beleibte Frau mit dicker Brille und sachverständiger Miene.
Hatte der Arzt wirklich von einer Schussverletzung gesprochen oder nur eine Vermutung geäußert? Warum hatte ich ihn nicht gefragt? Auch das hatte ich falsch gemacht.
Alles hatte ich falsch gemacht.
Ich hätte Runkel nie und nimmer allein hierher schicken dürfen. Gegen jede Vorschrift war das gewesen.
Ich war …
Ich hätte …
Ich wischte mir den Regen von der Stirn, massierte meine Augen und war plötzlich nur noch müde.
Aber ich musste meine Gedanken zusammenhalten. Ich durfte jetzt nicht müde sein.
Ein Auto bremste scharf. Balke und zwei junge Kollegen sprangen heraus.
»Spusi wird gleich da sein«, erklärte Balke mit mahlendem Kiefer. »Ich habe alles alarmiert, was ich erreichen konnte. Wie geht’s Rübe? Bringen sie ihn durch?«
»Hoffentlich«, hörte ich mich murmeln. »Es ist alles so … unglaublich schnell gegangen.«
»Wir kriegen ihn«, knurrte Balke mit kaltem Blick. »Die Sau, die das gemacht hat, kriegen wir, und wenn ich zehn Wochen nicht ins Bett komme.«
Immer mehr Autos hielten jetzt. Immer mehr Blaulicht zuckte. Immer mehr Kollegen um uns herum, teils in Uniform, teils in Zivil. Wut machte sich breit und Entschlossenheit. Ich hatte inzwischen meine Sinne wieder halbwegs beisammen und gab Anweisungen. Jeder Nachbar wurde noch einmal eingehend befragt. Die Umgebung wurde mit Hunden abgesucht in der Hoffnung, die Tatwaffe oder sonst irgendetwas zu finden, was uns zum Täter führte. Der Boden rund um den riesigen, vom strömenden Regen allmählich verwässerten Blutfleck wurde unter Scheinwerferlicht Millimeter für Millimeter abgesucht nach Winzigkeiten, die uns vielleicht irgendwann irgendwie weiterhelfen würden. Eilig wurde ein Zelt aufgestellt, um den Regen und die Nachbarblicke abzuhalten.
In mir nagten die Gewissensbisse wie kleine, hungrige Tiere.
Ich war schuld.
Ich hatte Runkel in sein Verderben geschickt. Vielleicht in den Tod.
In Schillers Haus immer noch kein Licht. War er gar nicht zu Hause? War er geflohen, nachdem er – aus welchen Gründen auch immer – meinen Untergebenen in den Bauch geschossen hatte? Ich schickte Balke und Evalina Krauss los, um an seiner Tür zu läuten. Mich selbst sollte er vorläufig nicht zu Gesicht bekommen.
Wolfram Schiller war zu Hause, berichteten mir die beiden einige Minuten später, und hatte die ganze Sache verschlafen.
»Behauptet er zumindest«, sagte Balke mit finsterem Blick.
Ich wies die Kollegen vom Erkennungsdienst an, Schillers Hände nach Schmauchspuren zu untersuchen, wie man sie findet, wenn jemand eine Handfeuerwaffe abgefeuert hat. Auch die Kleidung, die er getragen hatte, bevor er zu Bett ging, den Eingangsbereich seines Hauses. All das erlaubte Schiller zwar leicht verwundert, aber ohne Zögern.
Sie fanden nichts.
Ich saß längst im Trockenen. Ein fensterloser, mit allerhand Kommunikations-und Computertechnik ausgestatteter Kastenwagen bildete die
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