Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
ein Eis haben wollten. Es würde hier genauso verlassen, leer und still sein wie jetzt.
Engberts Domizil lag in der feinsten Ecke des Stadtteils, wo die Grundstücke noch deutlich größer und die Häuser von der Straße aus nicht mehr zu erkennen waren. Alex parkte vor einer Pforte, an der die Nummer 87 angebracht war, nahm ihre Handtasche und stieg aus. Kowarsch folgte ihr umständlich vom Beifahrersitz – er mochte zwar ein Muskelpaket sein, besonders gelenkig war er jedenfalls nicht. Mario hatte ihr die ganze Fahrt über zugehört, dann und wann eine Zwischenfrage gestellt und sich nicht ein einziges Mal über die abendliche Störung seiner Ruhe beschwert. Vielleicht war er froh gewesen, seiner schwangeren Freundin für ein paar Stunden zu entkommen. Vielleicht war er aber auch so ruhig, weil diese ihm eine Szene gemacht hatte. Letztlich war auf ihn Verlass gewesen, und irgendwie gestand sich Alex mittlerweile auch ein, dass Männer, die ihre Frauen vom Arzt abholen, keine allzu schlechten Kerle sein können – selbst, wenn sie tatsächlich ein Stacheldraht-Tattoo am Oberarm trugen wie das, was Mario heute unter dem Ärmelansatz seines hellblauen Polohemds zur Schau trug.
Nur eine schlichte Türschelle war an dem Torpfeiler aus Bruchstein angebracht – kein Namensschild, dafür eine Überwachungskamera, obwohl die das Grundstück umgebende, in einen Zaun eingewachsene Hecke flach genug war, um drüberzuspringen. Die Kamera diente wohl mehr der Abschreckung oder der Bequemlichkeit von Engberts.
Nachdem der Türöffner mit einem tiefen Summen die Pforte aufspringen ließ, gingen Alex und Kowarsch mit schnellen Schritten die Auffahrt hinauf. Hinter gewaltigen Oleanderbüschen tauchte die Villa auf. Das weißgestrichene Gebäude war einem Südstaaten-Herrschaftshaus nachempfunden, wirkte aber dezent und schien kaum älter als zehn Jahre zu sein. Der Bau strahlte Ruhe aus, Souveränität und Erhabenheit. Ohne Zweifel hatte Engberts dafür tief in die Tasche gegriffen.
»Kriminalpolizei, guten Abend, Herr Engberts.« Alex und Mario zeigten ihre Ausweise. »Wir haben ein paar Fragen an Sie, dürfen wir reinkommen?«, fuhr Alex fort.
»Sie sehen mich sehr überrascht«, murmelte Engberts, während Alex ihre Handtasche schulterte und ihm die Hand zum Gruß hinstreckte, was er ignorierte. Alex zog die Hand zurück und ließ ihren Ausweis in der Handtasche verschwinden. Wortlos öffnete Engberts die Tür etwas weiter und ließ die Polizisten herein.
Drei Stufen führten den von schmucklosen Säulen gesäumten Eingangsbereich hinauf. Die wuchtige Eichentür mit ihrem sachlichen Kastenmuster war bereits ein Stück geöffnet. Drinnen ging das weitläufige Foyer direkt ins Wohnzimmer über, dem im offengehaltenen Stil eine Küche angeschlossen war und von dem aus es direkt auf die Terrasse und zum Pool ging. Zwei große abstrakte Gemälde hingen rechts und links des Eingangsportals, davor standen Sideboards aus Edelstahl, auf denen Vasen mit weißen Lilien plaziert waren. Engberts stand wie ein Bollwerk vor der Stufe, die hinab in den ganz in Weiß gehaltenen Wohnbereich führte. Er trug eine helle Jeans sowie ein weißes Poloshirt und blickte Alex mit verschränkten Armen fragend an. Hinter ihm hockte in einem hellgrünen Jogginganzug mit angewinkelten Beinen eine attraktive Rothaarige auf dem Ledersofa. Vermutlich Engberts Frau Sylvie, nach den Akten sechsundvierzig Jahre alt, kinderlos, Diplom-Pharmazeutikerin, seit fünfzehn Jahren mit Engberts verheiratet, viele Jahre bei einem großen Pharmakonzern in leitender Funktion in der Forschung tätig, später dann bei Meridian Health Care. Sie sah Alex und Mario aus großen, runden Augen an.
»Ich weiß nicht«, murmelte der Arzt in säuerlichem Tonfall, »was ich unverschämter finde: Dass die Polizei überhaupt in meinem Haus auftaucht oder dass sie mich um eine solche Uhrzeit belästigt, ohne mich in Kenntnis zu setzen, worum es geht – geschweige denn, sich vorher anzumelden. Helfen Sie mir, welches von beidem ist das Unverschämtere?«
»Nun«, Alex trat von einem Bein auf das andere, »wenn Sie mich fragen, halte ich es für nicht in Ordnung, mehrere Anrufe der Kriminalpolizei zu ignorieren.«
»Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Ich weiß. Aber wir stellen hier die Fragen. Dürfen wir uns setzen?«
»Nein.«
Alex und Engberts standen sich wie zwei Boxer vor dem Gongschlag zur ersten Runde gegenüber, die den Gegner abschätzen. Nun, dachte Alex,
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