Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
einmal an ihrem Grab hast du es dir eingestehen können, Marlon. Zu der Beerdigung hast du dich nicht getraut, aber du hast ihr jedes Jahr Blumen gebracht. Hast du etwa gedacht, ich merke das nicht? Und ich habe dich jedes Mal dabei beobachtet. Jede deiner Regungen habe ich durch das Fernglas gesehen. Keine Sekunde lang habe ich dich aus den Augen gelassen. Dich. Ihren Mörder.«
… yes, now you’re gone and from this moment on I will be crying, crying, crying over you …
Es konnte nicht sein. Es war nicht möglich. Es war nicht passiert. Es war …
»Nein«, sagte Marlon leise und presste die Lippen aufeinander. »Nein.« Die Tür. Der Druck. Er konnte es nicht mehr aufhalten. Das Monster quetschte sich durch den Spalt. Es stemmte die Schulter hindurch. Es war zu stark, er …
»Nein!« Verzweifelt trommelte sich Marlon mit den Fäusten gegen die Schläfen.
»Oh, doch, Marlon«, zischte Marcus. »Oh, doch. Sie war bei einer Freundin. Sie hatten ein oder zwei Flaschen Wein zu viel geleert. Sie hat versucht, mich zu erreichen. Aber ich schlief und habe das Telefon nicht gehört. Deswegen hat sie sich zu Fuß aufgemacht. Ein Weg von einer halben Stunde. Sie mochte laue Sommernächte. Dein Wagen hat sie erfasst und etwa fünfzehn Meter durch die Luft geschleudert. Sie war sofort tot.«
Das Reh, das sich in das Gesicht der Frau verwandelte, das zum Kopf des Rehs wurde, um mit dem Gesicht der Frau zu verschmelzen …
»O Gott, o Gott.« Marlon zitterte am ganzen Körper.
»Ja, Schocktherapie hilft am besten, stimmt’s?«, fragte Marcus. »Und ich habe es herausgefunden. Ich habe alles herausgefunden. Alles. Aber ich behielt es für mich. Jahrelang. All die Jahre voller Schmerz …« Marcus sah einen Moment zu Boden. »Willst du wissen, warum?«
»Warum?«, schrie Marlon und spie Speichel und Blutstropfen aus.
Marcus beugte sich vertraut zu Marlon hinunter und flüsterte ihm die Antwort ins Ohr. »Ich hätte dich jederzeit töten können. Aber ich habe es mir nicht leichtgemacht. O nein. Ich habe es mir wirklich nicht leichtgemacht, denn ich wollte dich ganz legal erschießen wie ein räudiges Stück Vieh: Mit dem Gesetz und der Gerechtigkeit im Rücken. Eine schöne, saubere Tötung von Amts wegen. Offiziell bist du nicht mehr als ein Stück Dreck in der Gosse, ein durchgeknallter Massenmörder. Und ich …«, Marcus stellte sich wieder hin, »… ich bin der Regen, der dich wegspült.«
»Du hast sie alle getötet!«, brüllte Marlon. »Du hast sie alle getötet! Du bist der Wahnsinnige! Du!«
Marcus zuckte mit den Schultern. »Es hat mir keinen Spaß gemacht. Es war auch nicht besonders widerlich. Ehrlich gesagt habe ich gar nichts dabei empfunden. Alles, was ich jemals gefühlt habe, liegt unter einer drei Meter hohen Schicht Erde begraben. Sie waren Kollateralschäden. Mittel zum Zweck. Kosmetik. Nenn es, wie du willst. Aber letztlich bilden sie nur den Rahmen, der das wahre Monster zur Geltung bringt. Und das bist du.« Marcus sah auf die Uhr. »Okay. Irgendjemand wird die Schüsse auf Alex gehört haben. Wir haben keine Zeit mehr. Bringen wir es hinter uns.« Er richtete die Waffe auf Marlons Kopf.
»Nein!«
Eine Frauenstimme. Durch den Schleier vor seinen Augen blinzelte Marlon an Marcus vorbei, dessen Gesichtsfarbe innerhalb eines Wimpernschlags von bleich zu aschfahl gewechselt war. Da stand Alex und hielt ihre Pistole mit beiden Händen umschlossen. Die Bluse war zerfetzt. Darunter kam das schwarze Gewebe einer Schutzweste zum Vorschein.
[home]
57 .
D ie Weste war eine » COP Specialist FL « und gewiss ungeheuer teuer gewesen. Als Alex sie ausgepackt hatte, hatte ihr Vater tief durch die Nase eingeatmet und die Luft langsam wieder ausgeblasen. Ihm war ganz anders bei dem Gedanken, dass sein kleines Mädchen irgendwann einmal vielleicht ein solches Ding tragen musste und dass auf sie geschossen werden könnte. Er hätte ihr wahrlich lieber eine schicke Bluse von Strenesse geschenkt. Aber darüber hätte Alex sich niemals so gefreut wie über diese Weste. Sie war ein Zeichen dafür, dass Dad sich abgefunden hatte. Dass er ihren Wunsch endlich anerkannte und respektierte. Wenn Dad etwas tat, hatte es Hand und Fuß. Er würde sich genauestens über die Qualität und Funktionsweise von Schutzwesten informiert, Stunden im Internet zugebracht und möglicherweise sogar Gespräche mit Spezialeinheiten geführt haben. Dad hatte sich mit
ihr
beschäftigt. Und er wollte sie beschützen.
Heiße
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