Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Wogen waren durch Alex gerollt, als sie »danke« geflüstert und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. Er roch wie immer nach einer Mischung aus Dior-Aftershave und Pfeifentabak. »Sie soll die beste sein – und auch ganz bequem, habe ich gehört«, hatte er gemurmelt und dann lächelnd hinzugefügt: »Wenigstens verdeckt sie deinen Ausschnitt sehr passabel.«
Alex hatte die Weste auf den Beifahrersitz geworfen, als sie losgefahren war, und vor dem Aussteigen angelegt. Ihre Brust schmerzte, und jeder Atemzug tat weh. Aber mehr als respektable Prellungen und vielleicht eine angeknackste Rippe hatten die Schüsse nicht verursacht. Die Wucht der Aufschläge hatte sie von den Füßen gerissen. Mit dem Hinterkopf war sie an die Verkleidung einer Bierbude geprallt, aber nicht länger als einige Minuten ohne Bewusstsein gewesen. Als sie wieder zu sich kam, sah sie die beiden Männer streiten, konnte aber nichts verstehen. Ein Schmalzsong tönte aus den Boxen, und erst als sie etwas näher heranschlich, konnte sie verfolgen, worüber die Männer sprachen.
Marcus. Was für ein Hass musste ihn all die Jahre getrieben haben. Er hatte die Zeit gehabt und die Kenntnisse, um alles echt und schlüssig wirken zu lassen, hatte die verschiedensten Fährten gelegt und alle getäuscht. Er war ein Polizist, keines der Opfer hätte ihm misstraut. Er wusste, wie man die Ermittler auf Trab hielt und ausspielen konnte, und musste auch von dem C- 12 , Engberts und Meridian Health Care wissen. Die Registereinträge, die Alex auf Marcus’ Computer gefunden hatte, waren wahrscheinlich manipuliert, damit sie eine Grundlage für das Täterprofil bilden konnten. Vielleicht hatte Marcus Alex auch nur deswegen angefordert und sich so sehr für sie eingesetzt, damit er sie für seine Zwecke instrumentalisieren und zuletzt auch töten konnte. Ein Stich fuhr Alex durchs Herz, und sie wusste nicht, ob das von den geprellten Rippen kam oder von der Wut und Enttäuschung, von dem Entsetzen. Gleichgültig. Jetzt ging es nur darum, zu funktionieren. Alle Sinne auf ein Ziel zu bündeln. Und dieses Ziel namens Marcus stand jetzt vor ihr wie ein von Scheinwerfern geblendetes Reh und starrte Alex fassungslos an, nachdem sie ihn angebrüllt hatte.
»Nein?«, fragte Marcus. »Was soll das heißen, nein?«
»Es soll heißen, dass du das Recht hast, die Aussage zu verweigern und einen Anwalt zu konsultieren …«, keuchte sie. Die Luft pfiff durch ihre Lungen.
Marcus lachte.
»Leg sofort die Waffe weg, Marcus! Du bist verhaftet!«
»O Mann, Alex, du trägst eine Weste, na und?« Marcus lachte heiser. »Dann schieße ich dir jetzt eben ins Gesicht.«
Alex presste die Lippen aufeinander und umklammerte den Griff der Pistole. Die Knöchel traten weiß hervor.
»Etwa mit deiner Dienstwaffe?«, rief Alex zitternd.
Marcus sah nach rechts zu der auf den Stufen liegenden Pistole von Marlon, die er eben wieder gegen seine eigene getauscht hatte.
»Touché«, sagte er tonlos.
Alex nickte.
»Tja.« Marcus tat so, als wolle er nach Marlons Waffe greifen. »Du hast recht. Dann will ich mal die andere Knarre holen.«
»Keine Bewegung, oder ich werde dich erschießen.«
»Oh, wirklich?«, fragte Marcus und verharrte in der Bewegung.
»Ja. Wirklich.«
Einen Moment lang schwiegen sie. Dann sagte Alex: »Wie konntest du das nur tun, Marcus.«
»Du weißt doch, wie es ist«, fauchte er zurück.
Benji. Das Messer, all das Blut, das viele Blut.
»Ja, ich weiß es.«
»Was hättest du getan, Alex, wenn du seinen Mörder in die Finger bekommen hättest?«
Sie hatte es sich tausendfach ausgemalt. In allen Variationen. Die Haut abgezogen. Die Augen ausgestochen. Bei lebendigem Leib verbrannt. Gepfählt. Die Eingeweide herausgerissen. Aber es hätte nichts geändert. Benji wäre danach immer noch tot gewesen.
»Es geht nicht darum, was ich getan hätte«, antwortete sie. »Es geht darum, was du getan
hast.
«
»Na dann«, seufzte Marcus und nahm seine Dienstwaffe wieder hoch. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu sehen, wer schneller ist: du oder ich.«
Alex schluckte. Und dann sah sie eine Bewegung hinter Marcus.
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58 .
M arlon hatte eine Stahlstange aus der Sicherheitsabsperrung neben den Gondeln gezogen. Wie ein Baseballspieler holte er aus und schlug mit aller Kraft zu. Der Schwinger erwischte Marcus in den Kniekehlen und fällte ihn wie einen Baum. Als er zu Boden ging, löste sich ein Schuss aus der Waffe. In einer roten Wolke
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