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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Allerdings hatte sie mich jetzt auch nicht gerade beim Flirten mit der Barfrau im St. Regis, einer Filipina, erwischt.
     
    Sabina und ich hatten die Trümmer unserer Ehe nie richtig sortiert, aber die bloße Tatsache, dass so viele unserer gemeinsamen Freunde glücklich waren – oder wenigstens häuslich geworden –, hatte uns automatisch zu einer kleinen Selbsthilfegruppe zusammengeschweißt. Die natürlich nur so lange stabil blieb, wie jeder von uns Single und unglücklich war.
    Und so schielte ich jetzt mit einem Schauder des Verrats zu Clarissa, die am nördlichen Ende der Kew Bridge stand. Und mächtig fror in ihrem leichten Wollmantel. Ihre Lippen noch röter vom Wind.
    »Sabina«, sagte ich. »Entschuldige, ich bin ein bisschen in Eile. Ich bin gerade in London, in der Nähe jedenfalls, und ein Kollege von mir hat eine Frage.«
    »Ein Kollege.« Sie atmete tief aus. »Was brauchst du, Henry, sag schon.«
     
    Clarissas Magen knurrte genauso laut wie meiner, als wir wieder im Dragon's Tongue ankamen. Wir wollten eigentlich gleich den Pub ansteuern, aber dann wollte Clarissa doch noch einen Pullover anziehen, und so stiegen wir erst die Treppe zu unserem Zimmer hinauf und ich zog den bleischweren Schlüssel aus der Hosentasche … als im selben Moment Alonzo aus seinem Zimmer gefegt kam. Zwei Einkaufstaschen unter dem Arm, grinsend wie ein Fernsehprediger.
    » Deine Größe weiß ich, Henry, aber bei Clarissa musste ich schätzen.«
    Er drückte jedem von uns eine Tüte an die Brust und wartete mit mäßig kaschierter Ungeduld.
    »Jetzt probiert sie schon an, Herrgott noch mal.«
    »Was denn?«
    Und dann zog Clarissa ein Korsett und ein paar Strümpfe, einen Reifrock, ein Tudorkleid und einen Unterrock hervor. Ich fand in meiner Tüte einen Hut mit Feder, einen kurzen Umhang und eine kleine schneeweiße Halskrause, schlaff von altem Schweiß.
    »Jetzt sag nicht, dass du gutes Geld dafür bezahlt hast«, sagte ich.
    »Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen. Oh, das Abendessen geht auch auf mich. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr hinterher gleich ins Bett geht. Keine Paarungsrituale, wir brauchen unsere ganze Kraft für morgen.«
    »Wohin gehen wir denn? Auf eine Kostümparty?«
    Wie er uns anstrahlte! Mit der Kraft von tausend Sonnen.
    »Wir gehen zu einer Hochzeit, Kinder.«

 

    39
    D arf ich vorstellen: das glückliche Paar.
    Sie : Vizepräsidentin für Investmentbanking im Londoner Büro von Morgan Stanley Smith Barney. Er : Werbetexter in der Abteilung Markenentwicklung von Ralph Lauren. Zusammen strichen sie deutlich über 500 000 Pfund pro Jahr ein, und als es Zeit war, ihr Vermögen zusammenzulegen, einigten sie sich auch über ein wichtiges Detail. Da sie sich bei einem elisabethanischen Kostümball kennengelernt hatten, wünschten sie sich unbedingt eine Hochzeit im Tudorstil. Und was eignete sich dafür besser als Syon House – das an Samstagen für die Öffentlichkeit geschlossen ist, für private Feierlichkeiten jedoch zur Verfügung steht, je privater, desto besser?
    Und so legten an diesem Septembersamstag einige Hundert der wohlhabendsten Bürger Londons Reifröcke und Strumpfbänder, Samtmieder und Buckramwamse an – um eine Veranstaltung zu besuchen, die, mit gewissem Abstand betrachtet, einem Edeljahrmarkt der Renaissancezeit ähnelte.
    In diesen Pfuhl peinlicher Privilegien gedachte Alonzo uns zu stoßen. Und falls er einen Plan hatte, wie er uns von dort wieder fortschaffen wollte, gelang es ihm gut, ihn zu verbergen. Die Fragen, mit denen wir ihn bestürmten, wedelte er weg wie lästige Fliegen.
    »Warum sollen wir zu einer Hochzeit gehen?«
    »Weil wir so auf das Gelände kommen.«
    »Warum ist die Feier abends ?«
    »Weil wir verdammt noch mal die Schule der Nacht sind.«
    »Wie sollen wir am Sicherheitsdienst vorbeikommen?«
    »Die machen ihre Runden streng nach Vorschrift. Glaub mir, ich hab den Laden ausbaldowert. Übrigens ein Satz, von dem ich nie geglaubt hätte, dass ich ihn mal verwenden würde.«
    »Wie schaffen wir es, nicht das Alarmsystem im Haus auszulösen?«
    »Ach ja«, sagte Alonzo, und er klang leicht ermüdet. »Dafür haben wir Seamus.«
    Mehr sagte er zu dem Thema nicht, bis Seamus zwei Stunden vor dem Event selbst eintraf, als Zisterziensermönch verkleidet. Er war noch nicht ganz dreißig Jahre alt, klein, drahtig, mit einer Miene wie Groucho Marx, finster wie Kohle. Er hatte einen Rucksack bei sich und saß vollkommen still da, sprach

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