Algebra der Nacht

Karte. Betrachtete sie beschwörend.
    »Wisst ihr«, sagte er. »Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es im Haus ist.«
    Seine Miene hellte sich nur mit Anstrengung auf und fand ihr Gegenstück in Clarissas Stimme.
    »Wenn es so wäre , hätten sie es inzwischen gefunden. Die vielen Renovierungen, die vielen eingerissenen Wände …«
    »Er wäre auch töricht gewesen«, sagte ich.
    Mit derlei Reden versuchten wir, die Stimmung zu heben. Überhaupt, das Haus war die letzte Stelle, wo wir suchen mussten! Wenn Harriot etwas zu verstecken gehabt hatte, hätte er sich mit Sicherheit einen Platz auf dem Gelände ausgesucht. Eine Stelle, die nur er kannte. Zu der er gehen konnte, wann immer er es musste.
    »Wir müssen bloß herausfinden«, sagte Alonzo und zeigte auf das Kreuz, das Harriot auf der Karte gemacht hatte, »wo der Ausgangspunkt ist.«
    »Und von da«, sagte Clarissa, »brauchen wir bloß noch fünfzig Fuß nach Norden zu gehen.«

    »Wenn das so ist«, sagte ich, »warum starten wir nicht probeweise bei Harriots Haus?«
    Mindestens eine Tatsache sprach dagegen. Es gab kein Haus. Nur ein paar Fundamente, circa hundert Meter nördlich von Syon House, unter bestimmt drei Fuß fester Erde begraben.
    Wir gingen trotzdem zu der Stelle. Traten durch ein Tor, passierten ein altes Kühlhaus und standen schließlich auf einem Hügel – genau an dem Ort, an dem Harriot gelebt und gewirkt hatte.
    Aus den Quellen wussten wir, dass das Haus 95 Fuß lang und 18 Fuß hoch gewesen war. Ziegeldach. Es hatte eine Kammer, ein langes Studierzimmer, Speisezimmer, Vorratskammer, Küche und Bibliothek. Das ganze Haus schwamm in Papier, in »Büchern aus den verschiedensten Wissensgebieten« (so berichtete es der Geheimagent des Königs, der das Anwesen durchsuchte und ein Verzeichnis seines Inhalts anfertigte). Aber übrig geblieben war von alldem nur ein Gefühl. Die seltsame, schwindelerregende Empfindung, an einem Ort zu stehen, an dem einmal etwas geschehen war.
    Eine weitere Minute verging schweigend. Und dann sagte Alonzo:
    »Gehen wir.«
    »Wohin?«
    »Wohin wohl? Nach Norden. Fünfzig Fuß.«
    Er zog einen Linealkompass aus einer seiner Hosentaschen, und wir marschierten los, zählten beim Gehen mit. Und als wir mit dem Zählen fertig waren, standen wir in einem kleinen Wäldchen, dessen Bäume lange nach Harriots Tod angeplanzt worden waren. Keine eingeschnittenen Pfeile, keine verschlüsselten Botschaften, keine Kreuze oder sonstige Zeichen – bloß Stämme
und Wurzeln und die erste Lage Herbstlaub, das unter unseren Schuhen wisperte.
    »Was haben wir …« Alonzo zog einen Kreis zwischen den Pappeln und Birken und Kiefern. »Wo sollen wir …«
    Ich lehnte mich an eine alte Zeder. Massierte mir die Schläfen. 
    »Sieht nicht gut aus.«
    Nur Clarissa war felsenfest entschlossen, weiter gute Laune zu verbreiten. »Hey, wartet. Gibt es nicht heute noch einen Earl of Northumberland?«
    »Es gibt einen Herzog.«
    »Na, warum suchen wir den nicht auf. Wir erzählen ihm, wir hätten da ein aufregendes Projekt, vielleicht möchte er sich ja als Partner an einer – einer archäologischen Grabung beteiligen …«
    »Oh, und übrigens, am Ende springt vielleicht sogar Gold heraus. Aber keine Sorge, das nehmen wir mit, wenn wir fertig sind. Fröhliche Weihnachten!«
    Statt an Alonzos Ton Anstoß zu nehmen, stand Clarissa einfach eine Weile ruhig da und hielt die Nase in den Wind. Dann marschierte sie los.
    Zurück zum ehemaligen Standort von Harriots Haus. Wieder durchs Tor, an dem sie kurz Halt machte und sich dann nach Westen wandte, in Richtung Lime Avenue.
    Erst als sie an den Pfeffertopfhäusern – den zwei Wächterhäusern, mit deren Bau Northumberland 1603 begonnen hatte – angekommen war, wandte sie sich um.
    Und inzwischen standen Alonzo und ich neben ihr, und wir blickten alle zurück zum Syon House. Ein klassischer viereckiger Renaissancebau, drei Geschosse hoch mit einem Innenhof und einem bezinnten Turm an jeder Ecke.
    Ich radierte vor meinem geistigen Auge den mittleren Haupteingang aus und ersetzte ihn durch zwei Seiteneingänge. Kratzte die Bather Steine von der Fassade ab und holte die alten Backsteine hervor. Fügte ein spitzes Dach hinzu, strichelte Dutzende Schornsteine ins Bild, die allesamt Kohlenrauch ausstießen, und skizzierte zwei seitlich angrenzende Backsteingebäude.
    Und da streckte Clarissa den Arm aus.
    »Da drüben«, sagte sie.
    Sie zeigte zum Nordwestturm. Genau zu dem Turm, gebaut aus