Algebra der Nacht
roch und mir vorstellen konnte, wie sie mich zu einer Zweitwohnung in Notting Hill mit einer üppig mit Kissen beladenen Bettcouch chauffierte.
Und dann fuhren mir mitten in dem Bild Skrupel in den Leib wie Messerstiche. Denn draußen vor dem Zelt, keine fünfzig Meter von mir entfernt, wartete Clarissa Dale. Und die Entfernung zwischen mir und ihr traf mich wie ein plötzlicher Schmerz. Noch während meine neue Gefährtin mich mit Geplapper umgarnte, meine Hand berührte, meinen Arm, meine Taille, konnte ich nur denken: Wo ist Clarissa? Wie hole ich sie hier rein?
Ironischerweise war es Millicent, die mich rettete. Nachdem wir ziemlich linkisch eine Runde zu Now is the Month of Maying auf der Tanzfläche gedreht hatten, trank sie noch ein Glas Champagner und schob mir zwei frische Fünfzigpfundscheine in die Hand.
»Seien Sie ein Schatz und fragen Sie den Türsteher, ob er nicht ein bisschen Koks hat.«
Ich blickte entgeistert auf die Scheine.
»Kommen Sie«, sagte sie. »Das haben Sie doch schon mal gemacht.«
»Nur bei Männern, die mich nicht abmurksen.«
»Oh!« Sie streichelte mich am Kinn. »Er ist aus der Branche. Wir haben schon früher Geschäfte gemacht.«
Und da ich immer noch zögerte, legte sie die Hände so gebieterisch auf mich, wie es Clarissa und Alonzo auch getan hatten.
» Gehen Sie. «
Von weiter hinten sah Topcliffes Assistent noch massiger aus. Ein riesiger Granitblock, seit Jahrhunderten umwogt von den Ozeanen, die ihn trotzdem nur schwarz glänzend poliert hatten.
»Die Dame«, stammelte ich.
Seine Kiefermuskeln bauten sich auf.
»Sie möchte wissen«, sagte ich, »ob sie vielleicht etwas haben kann, das ein wenig anregender ist als Tabak.«
Offenbar überlegte er etliche Sekunden lang, wie mein Gesicht wohl aussehen würde, wenn er es mir Richtung Schädeldecke treiben würde. Dann trat er einen halben Schritt zurück und warf den Kopf nach rechts.
Ich folgte ihm und fuchtelte hinter meinem Rücken mit den Händen. Die Geste schien mir müßig, aber als ich mich umdrehte, sah ich voller Freude meine Komplizen wie einen Windhauch durch den jetzt offenen Durchgang fegen. Kurz darauf folgte ich ihnen, die Hosentaschen voller Münzen.
»Begabter Junge«, sagte Millicent in ihrem kehligen Alt.
Sie hatte nicht vor, etwas abzugeben. Drückte sich ihre Beute ins Korsett und strebte sofort dem handgemalten Schild mit der Aufschrift »Privée« zu.
»Stell dich niemals einer Frau in den Weg, wenn sie sich die Nase pudern geht«, sagte Alonzo.
Mit seinen unverhältnismäßig kleinen Füßen war es ihm wieder gelungen, sich an mich heranzuschleichen.
»Wo ist Seamus?«, fragte ich.
»Macht ein Nickerchen.«
»Das glaub ich jetzt nicht.«
»Wir haben ein stilles Eckchen zwischen dem Spinett und dem Klavicitherium gefunden. So, hör zu. Ich rede mit dir, als hätten wir uns eben erst kennengelernt. Eine Minute, nicht länger, dann trennen wir uns. Bitte präg dir das Prinzip ein. Du kennst
mich nicht besser als die anderen Gäste. Und du wirst dir nichts anmerken lassen, wenn ich dir das hier gebe.«
Etwas Schmales, Kaltes glitt in das Futteral an meiner rechten Hüfte.
»Was ist das?«
»Ein Rapier natürlich. Zu Elisabeths Zeit wäre ein Herr ohne einen Degen undenkbar gewesen.«
»Kommt mir etwas kurz vor.«
»Ja, entschuldige bitte, was Besseres als ein Tranchiermesser war nicht zur Hand. Ich hab's beim Catering gestohlen.«
»Und das brauche ich, weil …«
»Weil man nie wissen kann, nicht wahr?«
»Okay, sag mir nur, wo Clarissa ist.«
» Irgendwo wird sie schon sein. Und abwarten, bis sie dich zufällig trifft. Bitte verkneif dir Gefühlsausbrüche.«
Gebietsansprüche aber standen auf einem anderen Blatt. Als ich Clarissa zehn Minuten später fand, hatte ein verliebter Ziegenhirte in Beschlag genommen – fehlte nur noch, dass er ihr seinen Hirtenstab um den Hals legte. Ich hatte das Vergnügen zu sehen, wie ihre gelangweilte Miene sich aufhellte, als sie mich erspähte.
»Oh, hey«, sagte sie und tippte dem Ziegenhirten auf die Schulter. »Könntest du noch mal Met in meinen Krug nachschenken lassen?«
Er gehorchte schmollend. Prompt nahm ich den frei gewordenen Platz ein.
»Wir haben nur eine Minute Sprechzeit«, sagte ich. »Order von Alonzo.«
»Na wenn da so ist … ich liebe dich.«
Meine erste Reaktion war, ich muss es zu meiner Schande gestehen, ein schallendes Lachen. Laut genug, dass mindestens drei Köpfe zu mir herumfuhren. Dann blickte ich ihr
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