Algebra der Nacht
als ich in dem Moment war. Auf den ersten paar Hundert Metern schien die Welt von meiner Paranoia erleuchtet zu sein, und dass alle anderen Fußgänger mich übersahen, kam mir vor wie der ehrlichste Beweis ihrer Feindschaft. Es war Clarissa, die … mir Mut zusprach, wollte ich sagen, aber im Grunde baute sie mich auf. Einfach dadurch, dass sie meine Schulter immer wieder mit ihrer streifte und mich praktisch in meinen Körper zurückholte. Nach einer Weile merkte ich überrascht, dass ich Hunger hatte. Und was für einen! War das unter den gegebenen Umständen nicht Grund genug weiterzugehen?
Als wir an der Brücke angekommen waren, überlegte ich nicht mehr, ob uns jemand folgte oder nicht, und konnte vergnügt auf die Themse schauen. Schäumende Wellen, die in wildem Hin und Her Blätter und Äste herantrugen, und doch noch so ruhig, dass ein einzelnes Kanu, darin zwei Männer in Parkas – die nicht mal einen flüchtigen Blick auf uns warfen –, zum anderen Ufer hinüberfahren konnte.
Wie anders dieses Bild sich zu Harriots Zeit dargeboten haben musste! Eine Flotte von Lastkähnen mit Rahsegeln, die Waren flussaufwärts beförderte. Fährkähne und Boote, mit Holz und Dung beladen, und an den Landestellen Passagiere, die den sonnenverbrannten Fährleuten »Riemen auf! Riemen auf!« zuriefen. Damals war sie ein wilderes Tier, die Themse. Unversehens trat sie über die Ufer, und sie hatte so zu würgen an all dem Morast – Abfälle, Kot, tote Hunde und die Innereien geschlachteter Schweine –, dass man nicht einmal den Schellfisch sah, der darin schwamm.
Ich legte meinen Mantel um Clarissa und zog sie an mich.
»Mal angenommen, es gibt eine Margaret«, sagte ich. »Und weiter angenommen, wir haben recht mit dem Datum, an dem die Karte gezeichnet wurde.«
»1603.«
»In dem Fall sollte man mit bedenken, dass sechzehnhundertdrei nicht nur das Jahr war, in dem Jakob Elisabeth auf den Thron folgte, sondern auch ein Pestjahr.«
»Nein«, sagte sie. »Die Londoner Pest war sechzehn fünfundsechzig , oder? Ein Jahr vor dem großen Brand.«
»Das war die Große Pest«, erläuterte ich. »Unter den hygienischen Bedingungen, die damals herrschten, bei den Flöhen und Ratten überall erlebte so gut wie jede Generation einmal einen Ausbruch der Pest. Und die vom Jahre sechzehnnull drei …« Ich schnalzte mit der Zunge. »Das war eine der schlimmsten.«
Die Geißel traf zuerst Southwark und breitete sich dann in nördlicher und westlicher Richtung in die Stadt aus. Ende Juli forderte sie fast 1400 Menschenleben pro Woche; im September schon über 3000. An jedem beliebigen Tag des Jahres war einer von sechs Londonern entweder krank oder lag im Sterben. Die Stadt war so menschenleer, dass in Cheapside Gras zu wachsen begonnen hatte.
»Die Theater wurden geschlossen«, sagte ich. »Feste und Versammlungen, alles wurde abgesagt, es wurde nicht mal mehr Gericht gehalten. Eigentlich hatte König Jakob einen Triumphzug durch die Stadt antreten wollen, aber er musste sich Hals über Kopf nach Hampton Court zurückziehen. Schließich landete er in Salisbury. Ohne ein Attest mit der Bescheinigung, dass man aus einem nichtbefallenen Viertel stammte, wurde man nicht einmal im Königspalast vorgelassen.«
Clarissa betrachtete eine Schwanenflottille, die sich von flussabwärts her näherte.
»Du meinst also, Margaret könnte bei der Pest umgekommen sein?«
»Ich meine, abwegig ist es nicht, sofern sie im Stadtgebiet von Groß-London ansässig war.«
»Aber wie sollen wir das herauskriegen?«
»Durch die Sterbestatistik. Einmal pro Woche haben die Stadtoberen eine Liste der Pestopfer zusammengestellt. So haben sie den Verlauf der Epidemie verfolgt. Sie konnten zwar nicht jeden einzelnen Toten erfassen, aber diese Gemeindediener waren verdammt gründlich. Da mal nachzuforschen lohnt sich bestimmt.«
»In der British Library?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange. Ich habe eine Freundin, die an der Columbia Dozentin für die Geschichte der Tudors ist. Ich ruf sie an.«
»Eine Freundin«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Alt oder neu?«
»Alt.«
Ganz stimmte das nicht. Befreundet waren Sabina und ich erst neuerdings, aber als Geschiedene waren wir alte Hasen. Alles in allem waren wir inzwischen dreimal länger geschieden, als wir verheiratet gewesen waren, und das mit mehr Erfolg.
Was auch erklärt, warum sie, als ich sie anrief, viel freundlicher klang als in unserer Hochzeitsnacht.
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