Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
Vom Netzwerk:
Mauerziegeln mit Verblendstein, der Harriots Haus am nächsten war.
    » Da drüben «, sagte sie noch einmal.
    »Alonzo«, sagte ich ruhig. »Was schätzt du, wie hoch ist der Turm?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    Doch noch ehe ich loslaufen konnte, um einen Museumsführer zu suchen, tippte Clarissa die Frage schon in ihr Smartphone ein. Es dauerte keine Minute, da hatte sie die Antwort.
    »Fünfzig Fuß.«
    Nun musste ich doch laut lachen.
    »Henry«, sagte Alonzo. »Sei bitte nicht makaber.«
    »Ich kann nichts dafür«, sagte ich und wischte mir über die Augen. »Harriot hat uns wieder reingelegt.«
    »Und wieso das?«
    »Weil wir dachten, er meinte mit Norden die nördliche Breite .«
    »Was soll er denn sonst gemeint haben?«
    »Die Höhe .«
    Alonzo, erst starr vor Verblüffung, begann belustigt zu grinsen. Er sah zu dem Erkerturm hinauf und sagte im Ton ehrfürchtigen Staunens:
    »Dieser Mistkerl. Er hat es oberirdisch vergraben.«
    »Fünfzig Fuß über der Erde.«
    Es blieb Clarissa überlassen, die Frage zu stellen, die darauf so natürlich folgte wie der Herbst dem Sommer.
    »Wie zum Teufel sollen wir es von da holen?«

 

    38
    I n der Tat: wie? Die Frage verschlug Alonzo die Sprache, und er verfiel in ein Schweigen, das nichts zu brechen vermochte. Erst als er zur Tür des Dragon's Tongue hereinkam und die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstapfte, fiel es ihm ein, nach uns zu rufen.
    »Gebt mir bis heute Abend«, sagte er.
    Ein Netz feiner Linien legte sich über Clarissas Gesicht. »Was hat er vor?«
    »Ach, wie ich ihn kenne, wird er Leute anrufen.«
    »Leute.«
    »Spießgesellen trifft es vielleicht besser.«
    Mich traf die volle Glut ihres Blicks.
    »Du sprichst von Kriminellen.«
    »Nichts dergleichen.«
    »Woher sollte Alonzo solche Leute kennen? Er stammt doch aus einer netten Familie.«
    Aus der allerbesten, ich stimmte zu. In früheren Zeiten war Richter Wax einer der angesehensten Strafverteidiger im District of Columbia. Betrug, Sexualstraftaten, Alkohol- oder Drogenmissbrauch am Steuer, Besitz und Verbreitung von Drogen, Körperverletzung, bewaffnete Raubüberfälle, Mord … wer als Anwalt so viel faulige Erde umpflügt, fördert schon interessante Larven zutage. Und wenn der Anwalt einen klugen Sohn hat, tja, dann lernt dieser Sohn, die Larven aus der Erde zu holen, ohne dass sein Vater das überhaupt merkt.
    Clarissa presste die Lippen zusammen.
    »Alonzo ist also im Besitz einer Gangsterkartei?«
    »Nichts Strafbares, eher eine Telefonkette.«
    »Die bis nach London reicht?«
    »Dank deren ist er immerhin hier, nicht? Oder wie viele Tote kennst du, die binnen achtundvierzig Stunden einen Pass ausgestellt bekommen?«
    Wir waren in unserem Zimmer, ich saß auf dem Rohrstuhl, Clarissa auf meinem Schoß. Ich entwirrte ihr gerade mit tiefer Befriedigung die Haarsträhnen, da sagte sie:
    »Henry.«
    »Ja?«
    »Als ich das erste Mal davon anfing, dass ich die Schule der Nacht gesehen habe, dachtest du, ich wäre nicht ganz dicht. Und ich nehm es dir nicht übel. Ich hab diese Telepathiesendungen im Fernsehen ja auch gesehen.«
    »Und inwiefern ist es bei dir anders?«
    »Ich kann nicht hellsehen. Ich hab noch nie irgendetwas vorhersagen können. Und ich hab auch keinen kleinen Mann im Ohr, da ist niemand, es ist – es sind Anfälle . Flashs  …«
    »Und das mit dem Turm war so ein Flash.«
    Sie atmete tief aus.
    »Keine Ahnung, ob da oben ein Schatz liegt. Ich weiß bloß, dass er dort war. Und sie auch.«
    Mit ein wenig Bedauern stieg sie von mir herunter (nur die empfindliche Schwellung in meinem Schoß zeigte noch, dass sie da gewesen war).
    »Schön«, sagte ich. »Was hat diese Margaret Crookenshanks mit Harriots Schatz zu tun?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Und wie kommt sie zu Tode?«
    »Ich weiß es nicht. Sie ist in einem Zimmer, und – Gott, ich fühle , wie das Leben aus ihr schwindet …« Clarissa verstummte für eine ganze Weile. »Es ist jemand bei ihr in dem Zimmer.«
    »Ist es Harriot?«
    »Wenn das Harriot ist , dann ja. Was hältst du von der Antwort?«
    »Und was macht er?«
    »Er bringt sie um, glaube ich …«
     
    Bis dahin hatten wir es für das Klügste gehalten, in unserem Zimmer zu bleiben, die mordlustige Menge zu meiden. Jetzt aber war die Vorstellung, hier zu bleiben, umringt von Gespenstern, unerträglich. Wir verdrängten also unsere Befürchtungen wegen Agent Mooney und Agent Milberg und schlenderten zur Kew Bridge hinüber.
    Schlendern klingt mutiger,

Weitere Kostenlose Bücher