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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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nur, wenn er angesprochen wurde, wendete nur so viel Kraft auf, wie er zum Überleben brauchte.
    »Lasst euch nicht täuschen«, belehrte Alonzo uns. »Seamus ist eine Klettermaschine. Er hat den Mount Rainier und den Makalu bezwungen. Vom Cerro Torre und vom K2 ganz zu schweigen. Ein Experte für technisch anspruchsvolles alpines Gestein und vergletscherte Hochgebirgsvulkane. Ehrlich, wir könnten niemanden finden, der besser geeignet wäre.«
    »Besser geeignet wofür?«
    »Henry. Die Entfernung vom Boden zur Spitze des Turms am Syon House beträgt wieviel?«
    »Fünfzig Fuß.«
    »Wie hoch ist der K2?«
    »Höher.«
    »Was lässt sich ergo leichter besteigen?«
    »Syon House.«
    »Genau.«
    Ich sah ihn an.
    »Du schlägst vor, auf den Nordwestturm zu klettern ?«
    »Verglichen mit dem Annapurna ist das ein Klettergerüst. Zehn Minuten, dann seid ihr oben, stimmt's nicht, Seamus?«
    »Warte«, sagte ich. » Wir ?«
    Ein rotes Pünktchen blitzte auf Alonzos Hornhaut auf.
    »Also wirklich, Henry, du bist doch noch einigermaßen in Form, nicht?«
    »Den Annapurna hab ich nicht bestiegen. Und wo gedachtest du dich unterdessen aufzuhalten?«
    »Am Boden natürlich, zusammen mit Miss Dale. Wir stehen Schmiere.«
    »Ich fang dich auf«, fügte Clarissa zwinkernd hinzu.
    Ich trank den letzten Schluck Kaffee, machte die Augen zu und sah mich im Geiste zwischen ihren ausgebreiteten Armen durchrauschen. Ihr schreckensstarres Gesicht beugte sich über meines.
    »Schön«, sagte ich. »Eine Frage noch. Wie genau kommen wir bei dieser Hochzeit rein? Das klingt doch sehr nach einer exklusiven Gesellschaft.«
    »Kann es sein, Henry, dass du keine Erfahrung damit hast, Hochzeiten zu stürmen?«
    »Nur meine eigenen.«
    »Dann hör mir zu. Das ist zu schaffen. Ich hab mich schon bei Amtseinführungen, Krönungen und Beschneidungen eingeschmuggelt. Ein Spritzer Skrupellosigkeit, mehr ist nicht nötig.«
    Von Skrupellosigkeit besaß Alonzo mehr als nur einen Spritzer, aber sogar er war wohl überrascht über die Sicherheitsstufe, die an diesem Abend in Syon Park herrschte. Man kam mit seinem Bentley oder Jaguar oder Lexus nicht mal bis zum Parkplatz, ohne von einem Piraten mit rotem Bart angehalten zu werden, der den Führerschein mit seinem augenklappenfreien Auge bis auf die Papierkörnung inspizierte. Und den zu umgehen war noch relativ einfach. Alonzo hatte eine Strecke am Fluss entlang ausfindig gemacht, die uns über ein Ha-Ha führte, nach dessen Überwindung uns – es mutete an wie ein Wunder – keine zehn Meter mehr vom Festzelt trennten. Es war so leicht gewesen, dass ich nicht zum ersten Mal dachte, sogar die Naturgesetze beugten sich Alonzos Willen.
    Vor dem Eingang jedoch stand jemand, der sich nicht beugte: ein Scherge im Kleid eines Scharfrichters. Die Arme regelrecht vor der Brust angeklebt, Kopfhörer, die ihm vom Quadratschä
del sprossen. Die Animosität floss ihm aus allen Poren. Vierhundert Jahre früher wäre er Topcliffes erster Assistent gewesen und hätte katholischen Rekusanten Pflöcke unter die Fingernägel getrieben.
    Anstatt diesem Kerl die Stirn zu bieten, bauten wir uns um einen Mercedes G-Klasse auf, taten so, als wäre es unserer, und schauten zu, während die geladenen Gäste in ihren Gewändern aus dem Kostümverleih das Gelände der Orangerie betraten. Und nach ihren Armbanduhren, Handys und Handhelds tasteten, mit denen sie sich im Nu zurück in die moderne Welt versetzen konnten.
    »Die sehen verängstigt aus«, sagte ich.
    »Wer wollte es ihnen verdenken?«, sagte Clarissa. »Ich würde lieber von einer Tudor-Hochzeit verschwinden als eine besuchen.«
    Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir eine potentielle Verbündete erspähten. Eine gelenkige, grobknochige Frau irgendwo zwischen Vierzig und Sechzig mit stufenförmig fallenden orangen Ringellocken und einem Reifrock, der so wenig Tudor war wie Robin Hood, aber den Vorteil hatte, alles wegzufegen, was auf seinem Weg lag. Sogar Topcliffes Assistent wurde für einen Moment von seinem erhöhten Platz gestoßen.
    »Ob wir unter das Kleid passen würden?«, dachte Alonzo laut.
    »Für Henry reicht der Platz«, sagte Clarissa.
    Von seiner Physis her war Seamus der Gestählte der bessere Kandidat für einen Job als Verführer, aber er hatte sich bereits mit seinem iPod zurückgezogen, dem jetzt die hektischen Akkorde von Panic! at the Disco entströmten. Und da Clarissa maulte, meine Beine kämen in dem Earl-of-Essex-Fummel unvorteilhaft zur

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