Algebra der Nacht
an.«
Gewiss ein Billett von Harriot. Letzte Anweisungen für die Aufbewahrung seiner Instrumente. Oder aber eine kleine Gefühlsaufwallung, irgendwo in der Old London Road zu Papier gebracht.
Aber es ist nicht Harriot. Es ist jemand, mit dem Margaret zuallerletzt gerechnet hätte. Ihre Mutter.
Meine liebste Margaret,
Ich bin furchtbar krank. Ich sehne mich danach, dich an meiner Seite zu haben. Könntest du kommen? Wenn nicht, so bete für mich, mein Kind.
Von fremder Hand geschrieben. Mrs. Cookenshanks kann ja nur ihr Kreuz machen und hat bestimmt einen Nachbarn oder einen Geistlichen um Hilfe gebeten.
Noch befremdlicher: die Sprache. Mein Kind … ich sehne mich … liebste Margaret … So wehleidig und unangenehm. Gar nicht wie ihre Mutter, die den Austausch von Zärtlichkeiten schon immer gescheut hat.
Und was zeigte die äußerste Not ihrer Mutter besser? Als dass sie in ihren letzten Stunden wird, was sie von Anfang an hätte sein sollen? Bevor das Leben sie hart gemacht hat?
Wieder und wieder liest Margaret die Zeilen. Und ist sich der Abwesenheit auf der anderen Seite des Vorhangs bewusst. Obwohl sie sich gut vorstellen kann, was Harriot sagen würde, wäre er da.
Der Brief ist wenigstens eine Woche alt, Margaret. Deine Mutter, Gott schenke ihrer Seele Frieden, ist höchstwahrscheinlich tot. Vielleicht sogar schon begraben. Weder du noch sonst jemand kann ihr jetzt noch helfen.
Und Harriot würde auch das sagen: In dem Moment, in dem du das Haus deiner Mutter betrittst, wird die Tür hinter dir verriegelt. Ein Abgesandter der städtischen Gewalt wird draußen postiert, der dafür sorgt, dass du es nicht verlässt. Du kannst nur hoffen, wieder herauszukommen, Margaret – es ist deine einzige Hoffnung – wenn du selbst stirbst. Und das wirst du beinah sicher.
Und sollte dieses Argument nicht verfangen, würde Harriot ihr ins Gedächtnis rufen, dass die Experimente keinen Aufschub dulden.
Schon jetzt missachtest du der Transmutation wegen alles andere: deine Gesundheit, deinen inneren Frieden – unsere Liebe …
Nein, Letzteres würde er nicht zur Sprache bringen, dafür ist er zu anständig. Aber sie würde seine Argumente verstehen. Wenn
sie jetzt fortging, gab sie nicht nur ihre Arbeit auf, sondern auch ihr neu geformtes Selbst. Um der Frau beizustehen, die genau das nach Kräften unterdrückt hat.
Stundenlang sitzt Margaret da und starrt auf die Worte ihrer Mutter, bis sie ihr vor Augen verschwimmen.
Nichts ist klarer, als sie zu Bett geht. Nur eine Erinnerung lässt sie nicht los, sie muss an den Nachmittag denken, als sie ihre Mutter beim Betrachten ihrer Schrift überraschte. Unfähig, aus den Zeichen einen Sinn abzulesen, stand ihr die Scham ins Gesicht geschrieben. Mit Zorn vermengt, war es so? Darüber, dass ihr solche Möglichkeiten versagt geblieben waren.
Ein Moment der Schwäche, rasch unterdrückt, hinter dem sich eine ganze Geschichte von Verlusten auftat. Zu diesem einen Moment kehren Margarets Gedanken unweigerlich zurück. Es ist der, in dem sie und ihre Mutter am innigsten vereint waren.
Am Abend des folgenden Tags kommt Harriot heim: mit schmerzenden Gliedern, gereizt vor Langeweile. Noch mürrischer, da nur die Gollivers ihn erwarten und seine Papiere immer noch nicht gepackt sind. Wo morgen der gesamte Hausstand des Earls abreisen soll!
»Wo in Gottes Namen ist Margaret?«
Sie geben keine Antwort. Überreichen ihm nur das Blatt.
Tom –
Meine Mutter hat mich gebeten, zu ihr zu kommen. Sie ist unwohl.
Ich habe deine Rückkehr nicht abgewartet, weil du gewollt hättest, dass ich bleibe. Und ich womöglich auf dich gehört hätte.
Ich stehe tiefer in deiner Schuld, als ich es sagen kann. Bitte betrachte dein Vertrauen in mich nicht als verschleudert.
Ich habe nicht überstürzt gehandelt.
Worte sind nichts. Kenne mein Herz.
Margaret
Er sackt so langsam zusammen, dass er erst merkt, was geschieht, als der Boden ihn empfängt und die Wand von hinten auf ihn zu kommt. Sein Kopf ist ansonsten vollkommen klar.
Sie ist nach London gegangen.
Mit seltenem Takt ziehen die Gollivers sich zurück. Er nimmt es kaum wahr. Liegt ganz still und trudelt dennoch durch Raum und Zeit, und nichts ist so, wie er es verlassen hat.
»Margaret …«
Er schlägt die Hände vors Gesicht. Zehn Minuten vergehen. Schließlich zieht er die Hände fort, und seine Augen, der Dunkelheit enthoben, heften sich auf etwas in der näheren Entfernung. Auf einen kleinen
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